Süddeutsche Zeitung

Weltpremiere in Ebersberg:Wie ein Tagebuch aus Geräuschen

Lesezeit: 3 min

Besucher erleben beim Hörspiel "Cut up the border" in der Galerie des Kunstvereins Ebersberg eine sinnliche Wahrnehmung der ungewohnten Art

Von Ulrich Pfaffenberger, Ebersberg

Stellen wir uns einmal vor, der ganzen Menschheit fehlte ein Sinn: das Sehen. Unsere Umwelt, uns selbst würden wir, wie das bei Blinden der Fall ist, vor allem über das Hören und Tasten erschließen. Führten wir ein Tagebuch, wären das wohl vor allem Tonaufnahmen, mit selbst gesprochenen Kommentaren, mit Geräuschen und Tonschnipseln, die wir aufbewahren, weil sie uns etwas sagen, etwas bedeuten. Für andere wären vermutlich zunächst nur Teile dieses Tagebuchs vollkommen verständlich, andere bräuchten eine Erklärung - "Machen die Sex oder Workout?" - wieder andere blieben uns völlig fremd, weil sie in unserer Hörwelt bisher nicht vorkamen.

Wie man ein solches Hörtagebuch verfasst, wie man es gestaltet und wie es in der eigenen Wahrnehmung ankommt, das erlebten rund vier Dutzend Besucher am Samstagabend in der Galerie des Kunstvereins Ebersberg. Sie waren Zuhörer und Beobachter zugleich bei einer Weltpremiere: einem Remix eines Hörspiels, den Tonkünstler Marc Parisotto, Filmemacher Nicolas Humbert und der Ebersberger Geräuschemacher Max Bauer live gestalteten. Die Grundlage dafür hatten sie aus Tonmaterial zusammengestellt, das vor 30 Jahren beim Film "Step across the border" entstand, den Humbert über den Improvisationsmusiker Fred Frith gedreht hatte. Damals ein filmisches Tagebuch über Begegnungen mit Kollegen, Proben und Diskussionen, mit Blicken hinaus in die Welt und hinein ins Leben, ein Stück, genauso improvisiert wie die Musik Friths.

Indem das Trio nun die Bilder aus dem Tagebuch entfernte, verschob es die wahrnehmbaren Botschaften in eine neue Dimension - "Hörspiel" genannt und "Cut up the border" betitelt. Eine Darstellungsform, die noch vor zwei, drei Generationen die Welt bewegte, man denke an Orson Welles' "Krieg der Welten", aber heute, verdrängt von der Macht der Bilder, sich eines kleinen Publikums in der Nische erfreut. Ein Genuss dabei ist, dass Geräusche viel überraschender auftreten und Wirkung zeigen als Bilder, ein weiterer, dass die Fantasie viel mehr Spielraum bekommt, den jeweiligen Sinneseindruck zu verarbeiten. "Ja", sagte Humbert im Gespräch hinterher, "es gibt mehr Kommunikation zwischen dem Stück und dem Publikum als bei einem Film."

Warum das so ist? Zeitweise hat die Geräuschmischung, die aus den Lautsprechern dringt, etwas so Chaotisches, dass man als Zuhörer die Orientierung verliert. Aber die Spannen sind kurz, in denen das geschieht. Dann taucht wieder ein Klang auf, der vertraut ist: ein Türenschlagen, das Zischen einer Omnibusbremse, Schritte auf einer Treppe. Das ist vergleichbar mit dem Blick nach oben zum Himmel, an dem sich die Wolken in wilder Struktur wälzen und verformen, bis man einen Elefanten zu erkennen meint, eine Pyramide oder einen Schmetterling. Man erblickt beglückt das Vertraute, das schon einmal Erlebte, während die Begegnungen mit Unbekanntem, Fremden einen verworren machen - oder unerkannt vorüberschweben. Die erste Zeile des Hörspiels "When you recognize your own song" ist die Erklärung für die ganze Geräuschwelt, die vor unseren Ohren entsteht. Der "own song", das ist unser individuelles, vertrautes Lied der Welt, die wir uns zurechtgelegt haben.

Was am Samstagabend das Publikum in der Galerie mit konzentrierter Aufmerksamkeit verfolgte und mit intensivem, beeindrucktem Applaus honorierte, ist vergleichbar mit einem Jazz-Konzert. Die drei Tonkünstler hatten ein Klang-Grundbild vorproduziert, eine Collage, bunt ausgewählt und komponiert - im titelgebenden "cut up"-Verfahren - aus 33 Stunden Tonbandmaterial.

Darüber improvisierten sie nunmehr live mit ihren eigenen Instrumenten. Humbert vertiefte mit seiner Stimme die Gedanken und Botschaften Friths und gab als Bandleader auch den Rhythmus vor. Mit dem Satz "Just keep singing and you find your way home" weckte er zudem die Idee, die eigene Stimme zu nutzen, damit andere mit ihrem Klang vertraut werden und man ein gemeinsames Zuhause entwickelt.

Parisotto verlieh mit seinem Keyboard, auf dessen Tasten keine Töne lagen, sondern Geräusche, dem Geschehen zusätzliche Raumwirkung. Auch setzte er geschickt jene kleinen Irritationen und Nebengeräusche, die im Alltag sowohl unser Gehör reizen als auch unser Hörbild strukturieren, in Hörens-, Überhörens- und Weghörenswertes. Es sind mitunter Geräusche, die da sein könnten, wenn jemand da wäre, der sie erzeugt, und jemand, der sie hört. Er lieferte damit auch den Denkanstoß, ob man dem Unterschied zwischen natürlicher Kreativität und künstlicher Intelligenz nicht vielleicht doch eher mit dem Ohr auf die Spur kommt als mit dem Auge.

Bauer schließlich bediente sich eines vielfältigen Instrumentariums, um Möwen schreien, Türen knallen oder Strukturen und Menschen ächzen zu lassen, die spontan in die "alte Welt" der Frithschen Begegnungen hereinplatzen. Es ist eine Kunst, natürliche Geräusche mit künstlichen Mitteln so zu erzeugen, dass sie natürlich klingen, obwohl jeder sieht, dass sie künstlich erzeugt werden. In manchen Fällen wird uns irgendwann allerdings gar nichts anderes mehr übrig bleiben, denn das "AT&T Switchboard in New York" im Film zum Beispiel, eine menschenbediente Telefonvermittlungszentrale von 1988, ist längst automatisiert und verstummt. Fred Frith dagegen, inzwischen 70, wird am nächsten Donnerstag im Alten Kino live zu hören sein.

"Closer to the Ground": Konzert des Trios von Fred Frith am Donnerstag, 31. Oktober, im Alten Kino in Ebersberg. Beginn um 20.30 Uhr, Einlass 19.30 Uhr. Karten unter www.kultur-in-ebersberg.de.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2019
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