Spätsommer. Wer nicht in den Urlaub gefahren ist, nutzt das lange Wochenende für einen Ausflug in die Berge oder besucht an Mariä Himmelfahrt einen der Gottesdienste. Der erste Schnee, Weihnachten, all das liegt für die meisten Menschen noch weit jenseits des Kalenderhorizonts. Erst recht die Stunde, zu der die Gottesmutter ihren erstgeborenen Sohn gebar und in eine Krippe legte, so wie es der Evangelist Lukas überliefert hat.
Einen Mann allerdings gibt es, der denkt schon jetzt, ach was: das ganze Jahr über an die Heilige Nacht: Für Franz Kisters haben Krippen immer Saison. Schon seit Wochen arbeitet er am nächsten Ebersberger Krippenweg. Vergangenen Winter hat er, der 35 Jahre lang Küchenchef der Kreisklinik gewesen ist, diesen Themenweg aus der Taufe gehoben. Organisiert wurde das Projekt vom Bund der Selbständigen (BDS) in Ebersberg. Der Unternehmer Martin Freundl und seine Vorstandsmitglieder hatten 50 Unternehmen und öffentliche Einrichtungen für die Idee gewonnen, Krippen aus Privatbesitz ins Schaufenster zu stellen. Dazu gab es ein Gewinnspiel, Preis war ein prächtiger, von Kisters gebauter Krippenstall. "Mehr als 2000 Passanten haben mitgemacht", berichtet Stadtführer Thomas Warg, der anlässlich des Krippenweges dreimal die Woche Führungen veranstaltet hat.
Auch dieses Mal ist der BDS Feuer und Flamme, wie Warg sagt. Und wer Franz Kisters kennt, weiß, dass es dieses Mal nicht einfach nur eine Wiederholung der erfolgreichen Premiere geben wird, sondern dass ihm gerade viele neue Ideen durch den Kopf gehen. "Ebersberg soll Krippenstadt werden", sagt Kisters mit Nachdruck. Dabei weiß er sich der Unterstützung der Stadtverwaltung, der Pfarreien und der Familien sicher.
Wieder ist er auf der Suche nach Krippen. Alte, neue, vergessene, kaputte. Lächelnd zeigt er in der Küche auf einen Stadel im alpenländischen Stil, den soeben eine Familie aus Kirchseeon vorbei gebracht hat. "Ich hätte da einen Stall, der ist nichts wert, aber die Figuren sind schön", hätten die Besitzer am Telefon versichert. Was den Stall betrifft, müssen sie sich keine Sorgen machen. Wer Kisters eine reparaturbedürftige Krippe überlässt, bekommt diese saniert zurück, kostenlos. Das Hirtenlicht braucht eine Batterie, das Moos auf dem Stalldach ist staubtrocken, auf dem Dach fehlen Schindeln, dem Strohstern ein Zacken, dem Jesuskind die Windel? Egal, Franz Kisters wird es richten.
Er repariert aber nicht nur Krippen, er baut auch selber welche. Sein Ruf ist bereits über die Landesgrenzen hinausgedrungen. Sogar aus Frankreich gehen Bestellungen bei ihm ein. Zu den Neubauten in diesem Jahr zählt eine Krippe aus Styropor im Stil einer antiken Ruine mit abgebrochenen Säulen und Rundbögen, wie man sie aus Neapel kennt, wo die Heilige Nacht gerne als quirlige Straßenszene mit Marktgetümmel und vielen Tieren inszeniert wurde. In diese Krippe werden demnächst Figuren einziehen, die Kisters als Schenkung erhalten hat, Figuren mit beweglichem Corpus und von Hand geschnitzten Köpfen. Die junge Modedesignerin Marina Maschek wird den Figuren sizilianische Kostüme, kombiniert mit zeitgenössischer Mode auf den Leib schneidern. Einer der Weisen zum Beispiel erhält ein typisch afrikanisches, der zweite ein indisches Gewand. Herodes, der den Mord an allen Neugeborenen Bethlehems anordnete, soll, wird dabei übrigens sein Debüt als Krippenfigur geben. "Er wird allerdings so platziert werden, dass er sich vom Jesuskind abwendet", erklärt Kisters. Mit ihrer Krippenkollektion werde sich Marina Maschek für eine Stelle in der Modebranche bewerben, berichtet Kisters.
Erstmals wird es dieses Jahr auch eine Krippen-Ausstellung im ehemaligen Schleckermarkt am Schlossplatz geben, geöffnet vom 1. Adventssonntag bis 6. Januar täglich von 13 bis 17 Uhr mit Besuchszeiten auch an den Feiertagen. "Dafür brauche ich natürlich Helfer, Rentner, Studenten, Hausfrauen und -männer, die jeweils einen Tag lang ehrenamtlich Aufsicht führen", sagt Kisters. Dass es dafür kein Geld, nicht einmal eine Aufwandsentschädigung geben wird, findet er eher unwichtig. "Für mich sind die Stunden, die ich zum Beispiel an der Ebersberger Stadtkrippe verbringe, stets ein bereicherndes Erlebnis", sagt er. Einmal im vorigen Jahr, da habe er einen alten Mann beobachtet, der mit einem kleinen Hund auf dem Arm kam und diesem die einzelnen Szenen erklärt habe. Ein anderes Mal habe ein Herr mit Bart ihn gefragt, ob er dem Jesuskind ein Lied vorsingen dürfe. Er, Kisters, habe sich über dieses Ansinnen sehr gefreut. "Erst da habe ich gemerkt, wen ich vor mir hatte: Es war der Fredl Fesl!"
Als weitere Neuheit will Kisters den Weg im Gebiet zwischen der Gärtnerei Weber und der Firma Wochermeier verdichten und weitere Betriebe einbeziehen, zum Beispiel das neue Seniorenheim, vielleicht auch die Wirtshäuser und die Tankstelle. Wer immer Interesse habe, eine Krippe ins Schaufenster zu stellen, solle sich bei ihm melden.
Auch Führungen wird es wieder geben. "Kostenlose Führungen", betont Stadtführer Thomas Warg. Die Informationen auf den Texttafeln zu den heiligen Herbergen sollen zudem vertieft werden. "Die Leute interessieren sich sehr für Herkunft, Machart und Geschichte der Krippen", sagt Warg. Schließlich werden in Ebersberg Krippen aus aller Herren Länder gezeigt, darunter eine stattliche Sammlung von Kleinkrippen aus Afrika, Nord- und Südamerika und Asien von der Größe einer Nussschale bis zur Zündholzschachtel; dazu Krippen aus Glas, Terrakotta und Porzellan, Prachtexponate aus dem Nachlass von Sepp Schromm, die Krippe mit lebensgroßen Figuren im Einkaufszentrum und viele mehr. Franz Kisters hat auch eine Anfrage an das Kloster Frauenchiemsee gerichtet. "Die haben da eine wunderschöne Krippe, eine der Figuren würde ich gerne mal in Ebersberg zeigen".
Die Leidenschaft des Franz Kisters für Krippen wurde befeuert durch ein Erlebnis während des Krieges. In einer Bombennacht 1944 wurde das Haus in München, in dem die Familie wohnte, zerstört. "Die Krippe aber ist heil geblieben, der Josef stand sogar noch aufrecht da", erinnert sich Kisters. Mit seiner tief empfundenen Freude am Geschehen der Heiligen Nacht sieht er sich in der Tradition des Heiligen Franz von Assisi. "Mein Vater hat auch mir den Namen Franz gegeben, das verpflichtet", sagt er und lacht. Für die katholische Kirche sei Ostern das zentrale Ereignis, für ihn jedoch sind das Geburt und Verehrung des göttlichen Kindes. "Ohne Geburt kein Tod am Kreuz! Die ganze Weltgeschichte liegt in der Krippe."
Globale Ausmaße hat auch sein Materiallager im Keller, eine schier uferlose Sammlung von Utensilien - darunter Wachs, Haarspray (um brüchige Teile zu stabilisieren), bunte Borten, Stoffe, altes Holz und Wurzelstrünke - die er auch mal selber auf seinem Buckel aus den Bergen ins Tal schleppt -, Drähte, Papier und vieles mehr. Alle Gerätschaften, die in einen Stadel gehören, bastelt er selbst: Sensen, Mistgabeln, Schlitten, Hirtenfeuer.
Ist der Stall bezugsfertig, setzt Kisters - natürlich mit Einwilligung der Besitzer - alle Beteiligten in Szene, achtet aber darauf, dass alles seine biblische Ordnung hat. So hat er einmal bei einem Gespräch einen Geschäftsmann darauf hingewiesen, dass Ochs und Esel, die in keiner Krippe fehlen, im Neuen Testament streng genommen gar nicht erwähnt werden. Woraufhin der Mann den Ochsen kurzerhand auf den Heuboden im ersten Stock der Krippe verbannte. Der Esel jedoch, der genießt Bleiberecht, Bibel hin, Bibel her. Schließlich hat der Graue die hochschwangere Maria nach Bethlehem und später nach Ägypten getragen. Aber ein Ochs auf dem Heuboden? So etwas gibt es wohl nur in der Heiligen Nacht.