Kunstverein AK 68:Freiluftgalerie mit Charakter

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Auf dem Gelände der ehemaligen Essigfabrik in Wasserburg ist ein Ort für die Kunst entstanden. Im Herbst soll eine Ausstellung im Ganserhaus all die Graffitis und Malereien präsentieren.

Von Nathalie Stenger

Schon von weitem stellt sich die Frage, wo man zuerst hinschauen und staunen soll. Auf die lilafarbene Kuh über dem dunklen Holzbalkon, oder auf die ausufernden Schriftzüge an den Wänden? Auf das beeindruckende Porträt eines jungen Mannes oder die übergroßen Tiere? Das Gelände der alten Essigfabrik am Ende des Holzhofwegs in Wasserburg, eingebettet zwischen Inn und einem kleinen Waldstück, ist so groß und so bunt, dass es wahrhaftig eine Weile dauert, sich einen Überblick über alle Kunstwerke zu verschaffen.

Doch wer sind die Menschen, die für all diese Farbpracht verantwortlich sind? Katrin Meindl zum Beispiel, die Zweite Vorsitzende des Kunstvereins AK 68 aus Wasserburg und damit eine der Verantwortlichen für die Gestaltung dieses "Lost Place", wie zurückgelassene Orte oft genannt werden. Meindl ist gut zu erkennen an ihrem roten Overall voller Farbspritzer und einer blauen Mütze, die an diesem kalten Apriltag trägt. Was sie und andere Kunstschaffende hier tun, hat sie für neugierige Spaziergänger gut sichtbar auf eine der Wände geschrieben: "Bis zum Abbruch der ehemaligen Essigfabrik Burkhardt dienen die Gebäude der Kunst! Innen wie außen. Streetart und Graffiti, Dokumentation und Fotografie." Das Ziel: Eine Ausstellung im Ganserhaus im Herbst, in der Innenstadt Wasserburgs. Aber nicht nur: "Es geht darum zu genießen, dass wir uns hier ausprobieren können", sagt Meindl.

"Wir" - das sind an diesem Tag Katrin Meindl selbst sowie bekannte Graffiti-Größen wie Daniel Westermeier aus Erding, auch bekannt als "Mr. Woodland". Oder auch solche, die es noch werden wollen: Maurice Bogdanski alias "Noir" arbeitet gerade an einem Fuchs, als Katrin Meindl durch ein hohes Rolltor in einen riesigen Raum der Essigfabrik führt, und die Künstler der Reihe nach vorstellt. Die Idee, diesen Ort der Kunst zu widmen, ist erst mit der Zeit entstanden. Eigentlich hatte sich die Stadt Wasserburg im vergangen Sommer bereit erklärt, die ehemalige Essigfabrik der Familie Burkhardt dem Jugendzentrum Wasserburg zur Verfügung zu stellen. In einem Ferienprogramm konnten Kinder und Jugendliche unter Anleitung die Außenwände des Gebäudes besprühen. Seit Oktober ist nun auch der ortsansässige Kunstverein AK 68 beteiligt, und Leute, die über ihn auf das Projekt stoßen. "Es waren auch schon zwei Fotografen hier, die Bilder des Lost Place gemacht und den Ort auf ihre Weise festgehalten haben", erzählt Meindl - und kommt gleich auf ein Problem mit der geplanten Ausstellung im September zu sprechen: "Wir haben überlegt, ob wir Fotos der Graffitis ausstellen. Aber das ist einfach nicht die gleiche Atmosphäre." Und ja, das stimmt, die Stimmung dieser Hallen in eine Galerie zu übertragen, ist eine Herausforderung. Riesige, rostfarbene Kessel stehen hier nebeneinander, auf manchen sind noch Schilder von früher zu sehen: "Säure, Sorte, Datum", steht da. Der Boden ist schmutzig, der Geruch vom intensivem Gebrauch der Farbdosen hängt in der Luft. "Den Charakter von hier kriegen wir nicht in das Ganserhaus", sagt Meindl, und weiter: "Ganz genau festgelegt ist die Umsetzung der Ausstellung also noch nicht."

Daniel Westermeier versetzt seinem Schriftzug gerade noch den letzten Schliff mit der Dose, bevor er erklärt, dass er eigentlich ganz andere Werke malt. "Ich komme zwar aus dem klassischen Graffiti", sagt er, "doch mittlerweile inspirieren mich Rembrandt, van Gogh, der Jugendstil allgemein." Mr. Woodland, Jahrgang 1981, ist heute bekannt für seine "Mural Art", Fassadenmalerei in und um München und auch im Ausland. Die SZ in Erding wird den Künstler deswegen nun für den Tassilo-Preis nominieren. Westermeier zeigt die große Fläche auf einer Wand im Hof, die er beim letzten Besuch in Wasserburg bemalt hat. Auf schlammfarbenen Untergrund ist eine Person in einem violetten Oberteil zu sehen, ein Hut verdeckt ihre Augen. Kleine Ausschnitte des Bilds scheinen nicht ganz an der richtigen Stelle zu sitzen. Mit Absicht: "Meine Bilder sind teils realistisch, teils grafisch." Mit dem Glitch-Effekt zerstöre man auf ästhetische Weise den Blick des Betrachters. "Das macht es lebendiger." Außerdem wichtig für Westermeier: Titel und Geschichte der Bilder. Dieses Werk heißt "Thoughts" - Gedanken. "Das ist ein Typ, dem viel durch den Kopf geht. So wie mir."

Doch es sind nicht nur die großen Werke, die einen Rundgang auf dem Gelände so spannend machen. So finden sich zwischen geschwungenem Graffiti auch ganz unscheinbare kleine Rotkehlchen aus Papier. "Frühlingsgrüße von Felix Rutkowski", sagt Katrin Meindl. Von ihm stammen auch die Bilder von Personen in schwarz-weiß gestreiften Pullovern, die sie sich gerade über den Kopf ziehen. Vorlage für die Schablonen sei seine Familie gewesen, erklärt Rutkowski später persönlich, als er mit seinen Kindern kurz auf dem Gelände vorbeischaut. Ganz im Element des Kunstlehrers, erläutert er die Spray-Techniken an der Wand. Das sei das Tolle hier, sagt Katrin Meindl: "Man lernt viel voneinander, wir beflügeln uns gegenseitig." Ihr eigener Kunststil sei vor diesem Projekt "alles, aber nicht mit der Dose", gewesen, jetzt finden sich an den Wänden schon Abdrücke ihrer eigenen Schablonen. Ihr heutiger auserkorener Platz: ein Wandvorsprung unter Dach. Auf blauem Untergrund hat sie einen Kopf gesprayt, mit Brille und geöffnetem Mund. In rosa steht dabei: "Einfach mal blöd schauen tut gut!" Auf der gegenüberliegenden Wand prangt der Kopf gleich nochmal.

Doch sie sei nicht die einzige, die von der Kreativität der anderen und dem Projekt profitiere, sagt Meindl. So habe Maurice Bogdanski schon Aufträge bekommen. "Noir", das Pseudonym, unter dem Bogdanski seine Schriftzüge und Malereien gestaltet, ist bei der Suche nach legalen Flächen über den Stadtrat Wasserburg auf das Projekt aufmerksam geworden, als er nach einer langen Pause der Kunst wieder zu sprayen begonnen hatte. "Das Schöne ist, dass nicht jeder kommen kann", sagt der 34-Jährige. "So bleibt der Kontakt zwischen Leuten bestehen." Man spreche auch untereinander ab, wer auf welcher freien Fläche malt. Seine Vorstellungen für die nächste Zeit: "Ich möchte sehr plastisch malen, mit Schriften können nur wenige Leute etwas anfangen." Doch das Verstehen sei eben das eine, das Machen das andere.

Bis 2022 soll die alte Essigfabrik noch erhalten bleiben, danach entsteht hier ein Wohngebiet. Bis dahin kann aber noch viel gemalt und gesprayt werden. "Es gibt da ein ungeschriebenes Gesetz", so Meindl: "Wer meint, er sei besser, darf drübermalen." Obwohl das Projekt für sie durchaus eine Herausforderung sei, so die Zweite Vorsitzende des AK 68, verfolge und begleite sie es sehr gerne: "Es wächst stets." Der Ort sei fast wie eine Freiluftgalerie, "wenn Leute an dem Gebäude vorbeigehen und sich jedes Mal freuen, wenn sich wieder etwas geändert hat". Die Ausstellung zur Kunst im Lost Place "Essigfabrik" ist geplant von 12. September bis 10. Oktober. Man darf gespannt sein.

© SZ vom 21.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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