Süddeutsche Zeitung

Video jederzeit abrufbar:Erwartungen übertroffen

Der "Don Camillo Chor" aus Vaterstetten baut mit einem virtuellen Konzertabend kreative Brücken.

Von Ulrich Pfaffenberger

Wer regelmäßig Konzerte des Baldhamer Don Camillo Chors besucht, der weiß, welche tragende Rolle neben den Stimmen die Körpersprache des Ensembles spielt. Die Sängerinnen und Sänger legen stets besonderen Wert darauf, Ohren und Augen anzusprechen. Die Sinnlichkeit eines Gesamtkunstwerks, wie es ein Chor an sich schon ist, erhält so zusätzliche Wirkung. Dass die Don Camillos nun genau dieses Talent nutzen, um bei ihrer Online-Premiere in eine neue Dimension vorzudringen, durfte man also hoffen - die Art und Weise, wie sie es umgesetzt haben, übertraf allerdings die Erwartungen. Ein knapp einstündiges Magazin, schauspielerisch moderiert von einem Gast ("Ich habe bezahlt und ich will etwas sehen") und einem Kartenabreißer ("Dann sehen wir uns das jetzt mal auf dem Laptop an"), liefert das szenische Umfeld für mehrere Gesangsnummern, in bunter Gestalt und wechselnder Perspektive vorgetragen. Die Qualität des in Eigenregie und mit Unterstützung befreundeter Techniker produzierten Opus darf man getrost als "absolut sendefähig" bezeichnen.

Das Konzert "Auf Abstand", am Sonntagabend via Youtube veröffentlicht, spiegelt ein sehr inniges, gleichwohl auch heiter-leichtes Verständnis von Chorkunst, die Grenzen überwinden muss. Grenzen des unter Pandemie-Bedingungen zu Probenden. Grenzen des technisch Machbaren. Grenzen der üblichen Konzert-Dramaturgie. Grenzen der Distanz zum Online-Publikum. Die Grenzen unsichtbar zu machen und die singenden Menschen berührbar ist als Kunst genauso hoch zu bewerten wie die stimmliche Qualität des Chores. Es ist aber nicht minder das Verdienst eines hochklassigen Ton- und Videotechnik-Teams, dessen Professionalität es zulässt, dass die Glaubwürdigkeit eines Produkts erhalten bleibt, das menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten zulässt. Etwas, das in der herkömmlichen Produktion von Video-Clips inzwischen zu häufig in Vergessenheit gerät.

Beispielhaft dafür der zweite Song: "Stop Everybody", eine bittersüßen Melange aus Spice Girls und Backstreet Boys, visualisiert durch tanzende Lego-Figürchen, lebt die Balance zwischen Künstlichkeit des Sichtbaren und Spürbarkeit des Gesungenen und auf diese Weise vom geschickten Spiel mit den Gegensätzen. Es findet kein Wettbewerb der Effekte statt, sondern eben ein Konzert. Das Arrangement, das Chorleiter Matthias Seitz sich hierfür hat einfallen lassen, verfügt über die gleichen Ohrwurmqualitäten wie die Vorbild-Songs und dürfte bei künftigen Livekonzerten auf der Wunschliste des Publikums ganz oben stehen.

Ein Paradebeispiel für den Gesamtkunstwerk-Gedanken der Don Camillos ist gleich zu Beginn zu sehen, als - noch zu sommerlichen Temperaturen - der Chor unter freiem Himmel ein "Shut up and dance" auf den Hof eines Werksgeländes hintanzt und sich vom Herzen singt, das einen vom heimischen Sofa reißt. Mit pfiffiger Kameraführung und rhythmisch perfekter Schnitttechnik erhält das temporeiche, anregende Arrangement des Hits der Gruppe Walk the moon einen so eigenen, leidenschaftlichen Charakter, dass man gar nicht mehr aufhören will, zuzuhören. Erst im Nachklang dringt hier noch durch, über wie viel Klasse und innere Struktur ein Chor verfügen muss, um hier kein schlichtes Cover abzuliefern, sondern ein eigenes Bild zu hinterlassen. Was, mit cleverer Technik, auch die Interpretation von "Circle of Life" aus "König der Löwen" und der Zusammenschnitt eines improvisierten "Singabends" vermitteln.

Einmal mehr, auch das macht dieses Konzert hörbar, darf sich der Don Camillo Chor glücklich schätzen, dass sein Können von erstklassigen Arrangeuren gefördert wird. Allen voran ist Marc Schmolling zu nennen, dem es bei "Black Hole Sun" gelungen ist, Töne und Akkorde zu finden, die dem astrophysischen Phänomen des Schwarzen Lochs eine klangliche Dynamik geben und gleichzeitig der surrealen Wortgewalt des Textes gerecht werden. Stimme, Sprache, Dynamik - das ist modernes a cappella auf höchstem Niveau. Solche Stücke hört man sich wieder und wieder an, weil sich jedes Mal neue Blickwinkel öffnen und Nuancen zeigen - noch verstärkt durch die szenische Begleitung.

"One Day I'll Fly Away", unterlegt mit Bildern einer Probe in einer Werkshalle, drückt wohl am stärksten die Zuversicht auf eine wiederkehrende Live-Kultur aus, und "Sound of Memory", im Gedenken an die verstorbene Mitsängerin Irina Klier, die Trauer um ein Leben, das verloren geht. Ein emotional geladenes Spannungsfeld, das sich wohl nur mit Musik auflösen lässt - so jedenfalls die Botschaft der virtuellen Vokal-Show "Auf Abstand", die alles andere ist als virtuell und alles andere als eine Show. Bis zu 572 Zuschauer haben das am Sonntag erlebt und, den Kommentaren im Chat nach, ausgiebig genossen.

Das Konzert ist abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=uxtQlRwvqYg&t=86s

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Quelle:
SZ vom 01.12.2020
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