Eigentlich hat Tiziana alles, was eine Sechzehnjährige sich wünschen kann. Sie ist beliebt in der Schule, hat ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und einen Plan fürs Leben. Tiziana ist außerdem Chefredakteurin einer Schülerzeitung und spielt erfolgreich in einer Volleyball-Mannschaft. Und doch schleicht sich, zuerst in leisen Andeutungen, dann immer spürbarer, ein Gefühl der Leere in ihr Leben - das beinahe in einer Katastrophe endet.
Mit viel Einfühlungsvermögen in die Figuren erzählt die Münchner Schriftstellerin Juliane Breinl in ihrem Roman "Graue Wolken im Kopf" die Geschichte einer Depression, die lange nicht erkannt wird. Durch die wechselnden Perspektiven zwischen Protagonistin und deren bester Freundin werden das Innenleben eines depressiven Menschen und dessen Außenwirkung geschickt zu einer Antwort auf die Frage verwoben, warum so lange niemand versteht, was eigentlich mit dem Mädchen los ist.
Autorin Juliane Breinl erzählt aus eigener Erfahrung: Ihre Tochter Antonia ist selbst mit 16 Jahren an einer Erschöpfungsdepression erkrankt. Das Gespräch mit der Autorin findet via Zoom statt, Juliane Breinl ist zu diesem Zeitpunkt bei ihrem Mann in den USA. "Bei meiner Tochter war es ein ähnlicher Prozess wie bei Tiziana", sagt sie. "Aber Tiziana ist ein ganz anderes Mädchen als meine Tochter." Sie beschreibt diese Zeit als Schicksalsschlag, der einen als Mutter eiskalt erwische. "Man denkt, das passiert nur anderen", so Breinl.
Weil bei Tiziana, der Protagonistin des Romans, alles ganz alltäglich beginnt, kann der Leser Schritt für Schritt die Veränderung miterleben, für welche die junge Frau und ihre Umgebung lange keine Worte finden. Zu Beginn des Romans scheint die Welt noch in Ordnung: Tiziana steht voll im Leben - beste Freundin, Eifersüchteleien, die erste Verliebtheit, das volle Teenagerprogramm eben. Bald mehren sich jedoch die Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmt. Zuerst ist es eine unbegründete Unzufriedenheit nach einem Volleyball-Match, dann Kopfschmerzen aus dem Nichts, das Gefühl von Zerschlagenheit. Und obwohl Tiziana merkt, dass ihr langsam die Aufgaben über den Kopf wachsen, mutet sie sich immer mehr zu.
Auch die Depression von Antonia, Juliane Breinls Tochter, ist auf eine Erschöpfung zurück zu führen. Auch sie ist ehrgeizig und sehr fleißig in der Schule. Im Gegensatz zu Tizianas Umfeld reagieren Antonias Eltern jedoch schnell: Als Antonia einen Hörsturz hat, ist den Eltern schnell klar, dass eine psychische Ursache dahinter stecken muss. Eine Jugendpsychiaterin wird eingeschaltet, die eine Depression bei Antonia diagnostiziert.
Im Roman gipfelt Tizianas Gefühl der Ohnmacht ihrem eigenen Leben gegenüber in einer Episode, in der sie plötzlich völlig ausgeschaltet ist, körperlich wie psychisch. "Zombiefeeling" nennt Tiziana die unsagbare Schwere in sich, die sie gleichzeitig teilnahmslos ihrer Umgebung gegenüber werden lässt. Die Autorin nähert sich dem Gemütszustand der Sechzehnjährigen behutsam über präzise Zustandsbeschreibungen und ein Widerspiegeln ihrer Gedankengänge. "Wie soll es ein normaler Mensch auch mit mir aushalten", fragt sich Tiziana zum Beispiel. "Ich stecke alle an, die in meine Nähe kommen."
Als der Verlag, der von Breinls persönlicher Geschichte weiß, vor ein paar Jahren auf die Autorin zukommt mit der Anfrage, ein Buch über Depressionen bei Jugendlichen zu schreiben, zögert die Autorin. "Von Anfang an war klar, dass ich das Buch nur schreiben kann, wenn Antonia mit im Boot ist", sagt sie. Ihre Tochter ist dann nicht nur einverstanden, sie unterstützt ihre Mutter auch bei der Recherche, stellt ihr sogar ihre Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit zur Verfügung. Schnell stellen Mutter wie Tochter fest, dass das Thema größtenteils immer noch ein gesellschaftliches Tabu ist - umso mehr wollen sie damit an die Öffentlichkeit gehen und darüber sprechen.
"Vor allem auch in den sozialen Medien geht alles ums Bewerten", sagt Juliane Breinl. "Da passt eine Depression nicht in das Bild, das wir auch selbst von uns haben wollen." Ihre Tochter, heute 23, hat altersmäßig einen besseren Draht zu Jugendlichen und begleitet, sofern Corona dem Termin keinen Strich durch die Rechnung macht, ihre Mutter auch gern auf Lesungen in Schulen oder Jugendzentren.
Tiziana, so viel kann verraten werden, wird ihre Depression überleben und langsam, aber sicher in den Griff bekommen. Mit einer Depression zu leben ist nicht nur Sache der Betroffenen, wird dabei deutlich - sondern eine Aufgabe für alle nahestehenden Menschen. Auch die Genesung von Antonia war ein Projekt für die ganze Familie. "Von außen kann man viel nicht verstehen", sagt Juliane Breinl. Eine Therapie und auch Medikamente halfen ihrer Tochter aus der Talfahrt. "Antonia ist gestärkt daraus hervor gegangen", sagt Juliane Breinl. Heute beschreibt sie ihre Tochter als eine starke junge Frau, die gern in der Welt herumreist und sich gut um sich selbst kümmern kann - vielleicht sogar mit einer besseren Selbstwahrnehmung als jemand, der solch eine Erfahrung in jungen Jahren nicht machen musste. Der Roman "Graue Wolken" endet schließlich in einer Art Happy End - wenn auch einem fragilen.
Der Roman "Graue Wolken im Kopf" ist im Arena Verlag erschienen und kostet in der Taschenbuchausgabe acht Euro. Eine Lesung der Autorin Juliane Breinl findet am Freitag, 16. April, in der VHS Vaterstetten via Zoom statt.