Süddeutsche Zeitung

Vaterstetten:Therapieort Pferderücken

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Beim Voltigierverein Ingelsberg gewinnen Kinder mit Defiziten Selbstvertrauen

Von Alina Schimansky, Vaterstetten

Amarill, der 15-jährige Haflinger, steht fertig gestriegelt in seiner Box, er wartete schon darauf, in die Reithalle geführt zu werden. Schließlich ist es Dienstagabend, 17 Uhr, Zeit für die heilpädagogische Voltigierstunde für Kinder mit geistigen oder körperlichen Defiziten. Normalerweise ist der Voltigierverein Ingelsberg, welcher zu den erfolgreichsten in Bayern gehört und dieses Jahr Silber bei der Deutschen Meisterschaft in Hessen gewann, aufgrund seiner Erfolge bekannt. Doch einmal in der Woche liegt das Augenmerk nicht auf der sportlichen Leistung, im Mittelpunkt steht die Therapie. Sylvia Gern, Leiterin der heilpädagogischen Voltigiergruppe, bereitet die Arbeit mit Pferden und Kindern sehr viel Freude. Hauptberuflich ist sie als Erzieherin tätig. Mit der Entscheidung, eine Zusatzqualifikation als heilpädagogische Voltigierlehrerin zu absolvieren, hat sie sich einen großen Traum erfüllt. Seit 2005 betreut sie nun die Gruppe auf dem Hof der Familie Hagl. Hauptsächlich arbeitet sie hier mit Kindern im Alter von drei bis acht Jahren zusammen. Auch ihre Kollegin Dörte Klehe bringt langjährige Erfahrung im Umgang mit Mensch und Pferd mit.

Sylvia Gern und ihre Kollegin führen Amarill in die Reithalle. "Tür frei?" schreit Sylvia Gern. "Ist frei!", kommt es von der anderen Seite der Halle zurück. Die Kinder laufen sich schon ein paar Runden warm und begrüßen Amarill mit einem kurzen Streicheln der Nüstern. Der 15-jährige Haflinger antwortet mit einem zufriedenen Schnauben, dann geht es auch schon los. Die Kinder bekommen jeweils Anweisungen zugerufen, während sie auf Amarills Rücken sitzen. Auf die Haltung der Kleinen wird dabei ganz besonders geachtet. ,,Nimm den Kopf hoch, mach dich groß, wie eine Prinzessin" ruft Dörte Klehe. Das Mädchen lächelt und wirft eine Haarsträhne, die ihm ins Gesicht gefallen ist, zurück. Körperspannung und Ausstrahlung sind sehr entscheidend bei einer Sportart wie dieser, hier jedoch steht vor allem das Vertrauen zu Pferd und Trainer im Fokus. Obwohl es das eine oder andere Kind Überwindung kostet, seine Hand vom Voltigiergurt zu lösen, welcher um den Brustkorb des Wallachs gespannt ist, und in die Luft zu strecken, folgen die Kinder den Anweisungen aufmerksam und konzentriert. Die Trainer gehen gerne auf Wünsche der Kleinen ein.

Die derzeitige Gruppe, die aus fünf Kindern besteht, wurde erst dieses Jahr gegründet. Probleme wie Entwicklungsverzögerungen oder motorische Defizite erlauben es, eine Gruppe zu bilden. Bei schwerwiegenden Behinderungen wird dagegen oftmals auf Einzelunterricht zurückgegriffen, da auf diese Weise individueller auf die Bedürfnisse des Kindes eingegangen werden kann. Das zufriedene Lächeln der Kinder bestätigt Sylvia Gern und Dörte Klehe in ihrer Arbeit. ,,Die Kinder sagen nicht, dass sie zu einer Therapiestunde gehen, nein, sie gehen schlichtweg zum Pferd", erzählt Sylvia Gern. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum die Leiterin immer häufiger Anfragen von Eltern bekommt, die sich solch eine Therapiestunde für ihr Kind wünschen. "Das Selbstvertrauen, die Haltung und die Motorik entwickeln sich ganz besonders weiter", sagt die Leiterin. Pferde und Ponys müssen allerdings geduldig und ausgeglichen sein, wenn kleine Leute auf ihren Rücken herumturnen. Daher werden ausschließlich Vierbeiner ausgewählt , die beispielsweise Turnieratmosphäre kennen oder auch sonst kaum aus der Ruhe zu bringen sind. Derzeit stehen vier Pferde für die außergewöhnliche Voltigiergruppe zur Verfügung, auch die Größe der Tiere spielt eine entscheidende Rolle. Die Kinder haben in der Regel zwar keine Berührungsängste im Hinblick auf die Größe des Pferdes, jedoch können Sylvia Gern und ihre Kollegin im Notfall schneller eingreifen. ,,Kinder im Rollstuhl, wurden bisher noch nicht therapiert", berichtet Gern. Oftmals sind Ängste, Unsicherheiten, Aggressionen oder depressive Tendenzen das Problem der zu therapierenden Kinder, um die sich die Leiterin und ihre Kollegin liebevoll kümmern.

Das unbeschwerte Lächeln der Kinder während der ganzen Voltigierstunde ist nicht zu übersehen. Mit leuchtenden Augen warten sie sehnsüchtig darauf, bis sie wieder an der Reihe sind und auf Amarills Rücken zurück dürfen. Auch nach der Stunde ist die Freude groß, wenn sie den Wallach zurück in seine Box führen dürfen. ,,Bis nächste Woche, Amarill", flüstert ein Kind zum Abschied zärtlich in das Ohr des Haflingers.

Eine Einzelstunde für Kinder kostet 35 Euro, eine Gruppenstunde 25 Euro. Die Krankenkassen übernehmen diese Kosten allerdings nicht.

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Quelle:
SZ vom 30.12.2015
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