Ausstellung in Vaterstetten:Ausflug ins Gestern

Kaum eine Gemeinde im Landkreis hat sich im vergangenen Jahrhundert so stark gewandelt wie Vaterstetten. Im Rathaus wird nun diese Entwicklung in vielen Bildern sichtbar

Von Wieland Bögel, Vaterstetten

Wer in der Großgemeinde aufwächst, tut dies in aller Regel in wohlgeordneten Verhältnissen, gilt doch Vaterstetten als Heimat eher wohlhabender Leute - zumindest heutzutage. Doch als Helmut Patzer und seine etwa gleichaltrigen Nachbarn Karl Marx, Stefan und Josef Beres junge Vaterstettener waren, hatten ihre Familien gerade alles verloren. Die vier Buben wuchsen in einer Unterkunft für Flüchtlinge in der Zugspitzstraße auf, "Barackenkinder", wie der 1945 bereits in Vaterstetten geborene Patzer berichtet. Zusammen mit Marx und den Beres-Brüdern war er am Montag ins Rathaus gekommen, wo eine Ausstellung zu einem heute nahezu vergessenen Kapitel der Vaterstettener Ortsgeschichte eröffnet wurde.

Um zu verstehen, was es damit auf sich hat, muss man weit zurückgehen, mehr als 200 Jahre. Damals, so erklärte es Brigitte Beyer vom Gemeindearchiv, die an dem Abend die erkrankte Archivarin Ulrike Flitner vertrat, war die heutige Großgemeinde nicht mehr als ein kleiner Weiler irgendwo östlich von München. Eine erste Erhebung im Jahr 1807 listet für den Ort Vaterstetten gerade einmal 17 Häuser und eine Dorfkirche auf. Ein halbes Jahrhundert später waren es immerhin schon 37 Häuser, aber natürlich kein Vergleich zum heutigen Vaterstetten mit seinen nahezu 25 000 Einwohnern.

VAT Ausstellung 'Höfe, Häuser, Fluchtlingsfamilein' Rathaus.

Flüchlingskinder kamen nach dem Krieg in die Gemeinde.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Neben der geringen Bevölkerungszahl und dem sehr langsamen Wachstum hat Flitner bei ihren Recherchen noch etwas anderes herausgefunden: Auf den Höfen gab es eine hohe Fluktuation, kaum eine Familie ist länger als 20 Jahre - also nicht einmal eine Generation lang - auf einem der Vaterstettener Höfe geblieben. Was wohl an der schlechten Qualität des Bodens lag, die steinigen Äcker brachten zu wenig Ertrag. Wuchs die Familie, musste sie sich wohl oder übel nach einem besseren Hof umsehen - oder sie wanderte gleich nach Übersee aus.

Dies änderte sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, zwei Faktoren hat Flitner dafür ausgemacht. Zum einen eine Neuerung in der Landwirtschaft: das Aufkommen der Brennereien. Neben dem Alkohol entstand beim Brennen auch Maische, die sich an die Tiere verfüttern ließ. Dadurch konnte mehr Vieh gehalten werden, das auch mehr Mist machte, was wiederum den schlechten Böden zugutekam. Flitners Fazit: "Die Bauern wurden nicht steinreich, aber es war mehr Geld da, um satt zu werden."

VAT Ausstellung 'Höfe, Häuser, Fluchtlingsfamilein' Rathaus.

Die Ausstellung zur Ortsgeschichte war gut besucht.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Ebenfalls wichtig für die Entwicklung der Gemeinde war die Ende des 19. Jahrhunderts gebaute Eisenbahnlinie München-Rosenheim mit Bahnhof in Vaterstetten. Damit begann der Tourismus in der Gemeinde Einzug zu halten, viele Münchner kamen zuerst als Ausflügler, später bauten sich die Wohlhabenderen von ihnen Wochenendhäuser in Vaterstetten. Die durchaus üppig ausfallen konnten, wie ein noch heute erhaltenes zeigt: Jenes des Kaufhausbesitzers Madlehner, wo es sogar eine eigene Kapelle gab, beides ist heute Teil der Pflegeeinrichtung Maria Linden.

Die nächste Zuzugswelle stand dann nicht im Zeichen der Freizeitgestaltung sondern der puren Not. Während des Zweiten Weltkrieges kamen zuerst die "Ausgebombten", die etwa in München ihre Häuser und Wohnungen verloren hatten. Auch Betriebe flohen vor den Bomben, etwa die Firma Steinheil, die optische Geräte herstellte. Bis Kriegsende tat sie das unter anderem in Vaterstetten, neben den Werkshallen entstanden auch Unterkünfte für die Arbeiter - die für die nächste Zuzugswelle eine wichtige Rolle spielen sollten.

VAT Ausstellung 'Höfe, Häuser, Fluchtlingsfamilein' Rathaus.

Brigitte Beyer hat zusammen mit Gemeindearchivarin Ulrike Flitner die Ausstellung organisiert.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Denn nach Kriegsende wird Vaterstetten neue Heimat für viele, die aus ihrer alten fliehen mussten. Etwa die Familien der vier Buben aus der Barackensiedlung Zugspitzstraße, die der deutschen Minderheit in Ungarn angehörten und von dort 1945 fliehen mussten. Ganze elf Jahre bestand die Barackensiedlung, ganz einfach war es am Anfang nicht "aber es wurde immer besser", sagt Patzer. Er selbst hat in Vaterstetten nicht nur eine Heimat, sondern auch gleich eine Arbeit gefunden, fast ein Vierteljahrhundert war er bei der Gemeinde beschäftigt - passenderweise im Bauamt. Denn hier gab es in den vergangenen Jahrzehnten viel zu tun, nach den Flüchtlingen kam mit dem Bau der S-Bahn der nächste große Zuzug.

Doch was bedeutete dies für das kleine Bauerndorf? Welche alten Gebäude sind bis heute erhalten, welche abgerissen, und was steht an ihrer Stelle? Diese Fragen zu beantworten, haben sich die Ausstellungsmacher um Archivarin Flitner zur Aufgabe gemacht. Gut ein Jahr lang haben sie alte Fotos und Geschichten zusammengetragen, die einen Blick in die jüngere Vergangenheit der Gemeinde erlauben.

Auf den zahlreiche Vaterstettener sehr neugierig sind, wie die Eröffnung der Ausstellung am Montag zeigte. Hausherr Georg Reitsberger hat das doch etwas überrascht - positiv natürlich, der Bürgermeister ist bekanntlich selbst ein versierter Kenner der Ortsgeschichte. Dass man mit weniger Interesse gerechnet habe, zeige sich schon daran, dass man zu wenige Stühle aufgestellt habe, tatsächlich reichten die zwei Sitzreihen im Rathausfoyer bei weitem nicht für alle Besucher aus. Auch für die Betrachtung der Schautafeln mit den Haus- und Hofgeschichten brauchte es angesichts des Andranges etwas Geduld.

VAT Ausstellung 'Höfe, Häuser, Fluchtlingsfamilein' Rathaus.

Karl Marx, Stefan Beres, Helmut Patzer und Josef Beres, die nach dem Krieg aus ihrer alten Heimat flohen und in der Gemeinde Vaterstetten ein neues Zuhause fanden.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Für Reitsberger ein gutes Vorzeichen, denn die Ausstellung soll idealerweise "der Anfang einer Reihe" sein. Einer Reihe sowohl von Ausstellungen, als auch von begleitenden Bänden. Das erste Büchlein wird von Anfang Februar an erhältlich sein, ob und wie viele weitere folgen, hängt davon ab, wie viele Vaterstettener mithelfen. Denn zusammen mit der VHS ist ein Forschungsprojekt geplant, dabei sollen Interessierte die Gemeindearchivarin und ihr Team dabei unterstützen, weitere Fotos und Geschichten aus Vaterstettens Vergangenheit zu finden (s. unten).

Dies sei eine wichtige Aufgabe, sagte Reitsberger, denn schon heute "ist von den beschaulichen Dörfern nicht mehr viel übrig geblieben". Er dankte den Familien, die die aktuelle Ausstellung mit ihren Fotos und Geschichten ermöglicht und dazu beigetragen haben, unsere Heimatgeschichte lebendig zu halten". Er hoffe darauf, dass es noch mehr tun werden "damit diese Zeitdokumente nicht unwiederbringlich verloren gehen".

Die Ausstellung "Höfe, Häuser und Flüchtlingsgeschichten" ist bis einschließlich Freitag, 7. Februar, im Lichthof des Rathauses zu sehen. Geöffnet ist montags bis freitags von 8 bis 12 Uhr, donnerstags zusätzlich von 14 bis 18 Uhr. Danach zieht die Ausstellung in die VHS, Baldhamer Straße 39, um. Dort findet am 23. März von 18 bis 19.30 Uhr auch die Auftaktveranstaltung zum Forschungsprojekt zum Thema Ortsgeschichte mit Ulrike Flitner statt.

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