Laut Platon verspüren Menschen Sehnsucht nur aus Mangel. Frustration sei unausweichlich, wenn der Mensch einmal das bekomme, was er wollte. Keine guten Aussichten für den Kunstverein Ebersberg, der sich in einem internationalen Festival sein eigenes "Arkadien" geschaffen hat, den mythischen Sehnsuchtsort der individuellen Freiheit und des sozialen Friedens. Am Samstagabend bekam er nun die Quittung für seine Utopie; in der Uraufführung von "Arkadia", dem bislang letzten Stück von Herbert Achternbusch, das lange veröffentlicht war, aber sich bisher stur gegen eine Inszenierung gesträubt hatte. Die Berliner Theatermacher Werner Waas (in der Rolle des Alkibiades) und Lea Barletti haben dafür gesorgt, dass zwei klassische Griechen nun endlich in ihrem eigenen Mist und ihrer Sehnsucht erst sitzen, dann reden und schließlich sterben durften.
Passend zur Alten Brennerei war das Kammerspiel-Bühnenbild fast ganz in Weiß gehalten - bis auf den rubinroten Früchtetee, dessen laut blubberndes Wasser im Kocher den Startschuss gab. Das wiederholte Aufgießen der Kanne teilte das Stück in drei gleichermaßen schmucklose Akte. Selbst die kleine Ukulele war weiß, die Sokrates (Harald Wissler) gern bedächtig nachstimmte, wie um des grotesk schiefen Gesangs zu spotten, den er und Alkibiades immer mal wieder zweistimmig zum Besten gaben. Statt zur Toga greift man im freimütigeren Arkadien offenbar zu schlampigen Bademänteln, die vor Putz oder Farbe starren, dazu weiße Slips, aber die Pantoffeln sind optional. Alles ist eine Leinwand für die Gedanken an diesem Abend. Die Zuschauer bemühen sich, möglichst oft die Augen zu schließen, um sich darin zu vertiefen; außer natürlich, wenn Alkibiades sich gerade in seinem knappen Slip auf ihre Oberschenkel setzt. Mit aufgerissenen Augen gaffen im Gegensatz dazu drei Gips-Masken (die beiden Männer plus der Hirtengott Pan) ins Publikum, die die zwei Darsteller von Zeit zu Zeit absetzen und wie Handpuppen benutzen. Und auch das Publikum trägt brav seine würdevolle Maske, wenn Sokrates lang und breit vom "Ziegen- und Schweineficken" schwärmt.
Anderen Tieren meinen sie es derweil besser. Eine mysteriöse Meeresschildkröte zieht ihre Spur durch die völlig zerbröselten Textfragmente des Stücks und versetzt die beiden in Ehrfurcht. Wenn sie nicht gerade über Vögel nachdenken, die nicht fliegen können, dann zumindest über das Nachdenken selbst, und ob es "mit größtmöglichem Einsatz von Logik" zu begrenzen sei. Leider können sie sich gar nicht einigen, wie die Logik genau funktioniert, und ob die Schlussregel, dass keine Steine unter den Olivenbäumen seien, weil sie sie nicht sehen können, zulässig ist. So klappt es auch mit dem Begrenzen nicht und ihre Gedanken ufern immer weiter aus.
Irgendwie ist dieser Landstrich Arkadien doch nicht so ein sorgloses Elysium, wie es in der europäischen Kultur stets versprochen wurde. Honig müsste es zwar geben, weil Bienen ja da sind (hier hat Alkibiades den Modus Ponens aus der Logik korrekt angewendet), aber Wein ist nicht in Sicht, sondern immer nur diese unsägliche Teekanne. Die beiden stellen fest, dass sie zwischen Sand, Schluchten und ihrer Schwärmerei für diese eigentlich keine Probleme im Leben hätten. "Nur der Verstand wird zum Feind", seufzt Alkibiades, "weil ihn niemand annimmt und weiterträgt". Dann ist es also auch auf den Verstand zu schieben, dass die zwei einen regelrechten Lagerkoller miteinander entwickeln; dass Sokrates für Alkibiades' Geschmack viel zu viel scheißt und seinen Scheißhaufen noch mitten in dessen "Bemmerl" setzt (wenigstens hier, beim Thema Fäkalien, kommt Achternbuschs hochgestochenes Bayerisch zum Einsatz, das Publikum hatte darauf gewartet). Und dann ist der nachlassende Verstand bestimmt daran schuld, dass Alkibiades auch mit Sokrates' anderen Äußerungen langsam aber sicher die Geduld verliert. "Du fragst wie gestern!", wirft er seinem ewig schwadronierenden Lehrer vor.
Herbert Achternbuschs Krise des antiken Mannes äußert sich in völliger Vereinzelung. Gefangen zwischen der Glorie eines untergegangenen Athens, das sie verlassen mussten, und der Sehnsucht nach Olympia und Sparta, wo sie nie ankommen sollen, stecken ausgerechnet Sokrates und Alkibiades fest, die miteinander viel Vorgeschichte haben, aber sich kaum in die Augen sehen können. In Platons Symposion hatte der hässliche aber weise Sokrates den homoerotischen Wünschen des schönen, dummen Alkibiades noch eine Abfuhr erteilt; in einer Ode von Friedrich Hölderlin sich dann dem Jüngling aber schon geneigter gezeigt. Nun hatte Alkibiades ihn immerhin auf seinen Schultern hierhergetragen, nach Arkadien in der Alten Brennerei Ebersberg - aber was soll jetzt aus ihnen werden, überlegen sie anstrengt: Ein Quickie, eine Liebe oder doch eine Religion? Der lähmende Pessimismus, der sie abwechselnd auf ihren Bauch oder Rücken auf die Bank oder den Boden zwingt, lässt Sokrates schließlich auch um sein Fläschchen Gift bitten. "Bist du schon tot?", murrt der andere. Sokrates war längst tot. Er war es spätestens, als er zuvor niedergeschlagen gefragt hatte: "Was verstehst du nicht? Mich, die Worte oder was ich sage?" Achternbusch, der Altmeister des Absurden, der ob hohen Alters sein Arkadien am Samstag nicht mehr besuchen konnte, richtete diese Frage so auch ans Publikum.