Traurige Erinnerungen:Nacht in Flammen

Elisabeth Schuhbauer landet als 19-Jährige mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester ausgerechnet an jenem Tag in Dresden, an dem die Alliierten ihre schwersten Luftangriffe fliegen. Heute ist sie 90 und lebt in Vaterstetten. Doch die Erinnerungen verblassen nicht

Von Sophie Burfeind, Vaterstetten

Nie wird Elisabeth Schuhbauer diese Bilder vergessen können. Die Bilder jener Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945: Als sie, in eine einfache Wolldecke gehüllt, auf den Gleisen vor dem Dresdner Hauptbahnhof liegt und mitansehen muss, wie die Stadt um sie herum in Flammen aufgeht. Inmitten von Hitze, Lärm und sterbenden Menschen. Immer wieder muss sie diese Stunden in ihren Träumen durchleben.

Dabei ist das 70 Jahre her. Damals war Elisabeth Fischer, wie sie mit Mädchennamen hieß, 19 Jahre alt. In diesem Sommer wird sie 90. Doch die Erinnerungen verblassen nicht. Im Gegenteil. Je älter sie wird, desto schärfer werden sie, sagt sie. "Solange die Familie da war und das Geschäft, da ging das unter. Man kann ja nicht ständig an das Grausame denken. Und jetzt, wenn es ruhiger wird, denkt man wieder mehr drüber nach."

Elisabeth Schuhbauer lebt seit 42 Jahren in Vaterstetten. Alles, was sie an einem Tag erlebt, schreibt sie auf. Wen sie trifft, mit wem sie spricht, wie das Wetter ist. Damit sie nichts vergisst. Deswegen hat sie sich auch gut auf das Gespräch vorbereitet, neben ihrer Kaffeetasse liegt ein Blatt mit handschriftlichen Notizen. Einige der Sätze, die sie über das, was sie in Dresden erlebt hat, sagt, klingen ein wenig auswendig gelernt - so genau hat sie sich alles zurecht gelegt.

Traurige Erinnerungen: Irgendwie haben sie das Inferno überlebt: Elisabeth Schuhbauer, damals Fischer, ihre Mutter Katharina, die kleine Schwester Karola und Vater Josef.

Irgendwie haben sie das Inferno überlebt: Elisabeth Schuhbauer, damals Fischer, ihre Mutter Katharina, die kleine Schwester Karola und Vater Josef.

(Foto: Privat)

Es ist ein fataler Zufall, dass Elisabeth, ihre Schwester Karola und ihre Mutter Katharina die Bombardierung auf Dresden miterleben: Sie sind zu dem Zeitpunkt auf der Flucht vor der Roten Armee aus dem damaligen Jugoslawien. Als sie am Nachmittag des 13. Februars 1945 Deutschland erreichen, wähnen sie sich in Sicherheit. In Dresden. Just an dem Tag, an dem die Stadt dem Erdboden gleichgemacht werden soll.

Doch von Anfang an. Die Flucht der Familie Fischer beginnt im Oktober 1944. Bis dahin lebt sie im jugoslawischen Sombor, sie gehören der deutschen Minderheit dort an. Die Eltern betreiben ein gut laufendes Lebensmittelgeschäft, im Sommer macht Elly, wie sie mit Spitznamen gerufen wird, ihr Abitur. Ihre drei Jahre jüngere Schwester Karola geht noch zur Schule. Als die russische Front im Herbst immer näher rückt, beschließt die Familie am 8. Oktober zu fliehen - auf einem Pritschenwagen, mit zwei Pferden und zwei Koffern. Alles andere lassen sie zurück. "Die Flucht ging über Ungarn, Österreich bis nach Schlesien, wo wir unser erstes Weihnachten außerhalb der Heimat verbracht haben", erzählt Elisabeth Schuhbauer. In Bunzlau werden sie von einer Bauernfamilie aufgenommen. Doch nur einen Monat später werden die beiden Familien eines Abends von einem lauten Rattern und Quietschen aufgeschreckt - die ersten russischen Panzer. Sie lassen alles stehen und liegen und fliehen in Richtung Westen, größtenteils zu Fuß.

Viele tausend Flüchtlinge aus den Ostgebieten sind auf dem Weg dorthin. Die Straßen sind verstopft. Einige Frauen und Kinder werden von deutschen Soldaten, die ebenfalls auf dem Rückzug sind, auf Militärfahrzeugen mitgenommen. Darunter Elisabeth, Karola und Katharina. Den Vater verlieren sie in diesem Durcheinander. "So kamen wir genau am 13. Februar 1945 nachmittags in Dresden am Hauptbahnhof an. Der war voll von Flüchtlingen, Soldaten, Verwundeten, kleinen Kindern und alten Leuten", erinnert sich Elisabeth Schuhbauer. "Es ging nicht mehr weiter, weil die Zugverbindung nach dem Westen total unterbrochen war." Immer mehr Menschen kommen dazu, Panik bricht aus.

Traurige Erinnerungen: Vor der Flucht lebt die Familie in Sobibor, im damaligen Jugoslawien. Elisabeth (rechts) mit Freundinnen zu Hause.

Vor der Flucht lebt die Familie in Sobibor, im damaligen Jugoslawien. Elisabeth (rechts) mit Freundinnen zu Hause.

(Foto: Privat)

Sie fährt fort: "Es wurde Abend, es wurde Nacht und dann kamen die Sirenen." Das ist um 22.15 Uhr. In einem großen Bunker am Bahnhof überstehen die drei die erste Angriffswelle. "Alles war voll, es war grausam, wir haben kaum Luft gekriegt. Alles hat gewackelt und da waren solche dicken Rohre im Keller, daran kann ich mich gut erinnern, da haben wir immer raufgeschaut, weil wir Angst hatten, sie platzen." Die Stimme der alten Frau zittert. Sie, die sonst ein so heiterer Mensch ist, klingt plötzlich verzweifelt. Gegen 23 Uhr ist der Angriff vorbei. Die Mutter und die beiden Mädchen verlassen den Bunker. Am Bahnsteig finden sie die beiden Koffer wieder, die sie dort zurückgelassen hatten.

Doch nur wenige Stunden später, um ein Uhr nachts, gehen die Sirenen wieder los. "Wir konnten nicht mehr rein in den Bunker, der war schon voll", sagt Schuhbauer. "Da mussten wir raus mitten in die Nacht und haben die weitere Nacht auf den Gleisen verbracht." Soldaten werfen Decken über die Menschen, die dort liegen - "weil überall Glut rumgeflogen ist, damit wir nicht auch noch das Brennen anfangen." Den Anblick der brennenden Stadt hat die 90-Jährige noch genau vor Augen: "Es war ein ergreifendes Bild, das kann man nie vergessen, wie die Leuchtkugeln wie Christbäume vom Himmel fielen. Alles war hell erleuchtet, es war schauerlich-schön und wir standen da und haben das alles richtig gesehen und erlebt."

Traurige Erinnerungen: Ihren Mann lernt sie erst nach dem Krieg kennen. Er heißt Josef wie Elisabeths Vater.

Ihren Mann lernt sie erst nach dem Krieg kennen. Er heißt Josef wie Elisabeths Vater.

(Foto: Privat)

Am frühen Morgen ist der Angriff vorüber. Die Überlebenden, darunter viele Dresdner mit nichts als einem versengten Nachthemd am Leib, sollen sich auf den Weg zur Elbwiese machen. Wo vorher viele Menschen standen, liegen jetzt viele Leichen. "Über Leichen, sind wir gestiegen, ganz klein, verschrumpft, verkohlt. Es war schrecklich. Und überall die Flammen und der Sturm...", der alten Frau läuft eine Träne über die Wange.

Elisabeth will nicht mehr weiter. "Mir ist alles gleich", sagt sie zu ihrer Mutter und bricht weinend zusammen. Das hat man ihr später erzählt, sie kann sich nicht daran erinnern. Wie alle drei schließlich zur Elbwiese gelangt sind, weiß sie auch nicht mehr. Dort aber erlebt die junge Frau den für sie grausamsten Moment der Flucht: Tiefflieger schießen auf die hilflosen Menschen, die auf der Wiese stehen. "Das war das Schlimmste", sagt sie ernst. Und schweigt für einen Moment. Dann werden sie mit Pferdewagen aus der Stadt gebracht, in ein kleines sächsisches Dorf. "Ich weiß nicht mehr, wie wir da rausgekommen sind", sagt sie, ihre Hände zittern ein wenig. "Das ist wirklich wahr, dass der Mensch das in dem Moment einfach mitmacht. Da musst bloß schauen, dass du wegkommst. Nachher weißt du selber nimmer, wie du das gemacht hast." Mit einem Papiertuch trocknet sie sich die feuchten Augenwinkel. Nach einer kurzen Pause sagt sie: "Schwarz und dreckig waren wir. Das, was wir am Leibe hatten, war alles."

Ein paar Tage bleiben sie noch bei einer Frau, die ihnen einen Unterschlupf bietet. Bis der Vater sie dort abholt. "Fragen Sie nicht, wie der uns wiedergefunden hat - das war ein Wunder", sagt Schuhbauer. Es müsse wohl noch eine Art funktionierendes Postsystem gegeben haben. Teils zu Fuß, teils mit der Bahn, macht sich die wieder vereinte Familie auf den Weg nach Bayern. An Ostern erreichen sie Niederbayern. Am 8. Mai treffen sie, begleitet von amerikanischen Soldaten, in Grafing ein.

Traurige Erinnerungen: Ihre alten Fotos braucht Elisabeth Schuhbauer nicht, um sich an die Nacht in Dresden zu erinnern. Die schrecklichen Bilder hat sie alle in ihrem Kopf.

Ihre alten Fotos braucht Elisabeth Schuhbauer nicht, um sich an die Nacht in Dresden zu erinnern. Die schrecklichen Bilder hat sie alle in ihrem Kopf.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Das war das Ende der Flucht und der schlimmsten Erlebnisse", sagt die 90-Jährige. Aber es ist keine Ende-gut-alles-gut-Geschichte. "Sagen wir mal so: Herzlich willkommen waren wir nicht in Bayern." Dann scherzt sie: "Und jetzt red' ma selbst so." Sie hat ihr Lachen wieder gefunden. Einige Monate verbringen sie auf einem Bauernhof in Straußdorf. Zu viert schlafen sie in einem Zimmer, in dem Herd, in dem sie kochen müssen, hausen Kakerlaken. Als der Krieg vorbei ist, lässt der Bürgermeister alle Flüchtlinge zu sich kommen. "Und jetzt schaut's, dass'z hoam kommt's", herrscht er sie an. Doch die Fischers bleiben. Die Eltern eröffnen ein Kiosk in München, Elly arbeitet bei einer Versicherung am Sendlinger-Tor-Platz. 1949 lernt sie Josef Schuhbauer kennen: In der Stadthalle Grafing beim Tanzen. "Da haben wir den Grafinger Buben das Tanzen beigebracht", sagt die 90-Jährige und grinst verschmitzt. "Weil die Bayern ham überhaupt ned tanz'n kenna. Die ham nur Schuhplatt'ln kenna." Die jungen Mädchen lehren die Bayern Tango und Foxtrott. Eines Tages trifft sie Josef - der auch nicht tanzen kann. Er hat kurz vor Kriegsende ein Bein verloren. Elisabeth lässt sich auf ein Glas Wein einladen und nach Hause fahren - da ist es um sie geschehen. "Kriegsbeschädigt und Flüchtling, das hat einfach zusammengepasst", sagt sie und lacht.

Ein Jahr später heiraten sie, im April 1951 kommt die Tochter Brigitte zur Welt. 1952 ziehen die Schuhbauers nach Trudering und eröffnen dort ein Lebensmittelgeschäft. Im Dezember 1956 wird der Sohn Helmut geboren. Über die Nacht in Dresden spricht die junge Muter erst mal nicht. Sie träumt nur davon.

"Die ersten Jahre hast du das für dich behalten. Mein Mann hat auch nie davon geredet." Erst Jahre später sprechen sie über das, was sie im Krieg erlebt haben. Auch die Kinder fragen erst, als sie schon älter ist. Elisabeth Schuhbauer kauft sich Bücher über die Bombardierung auf Dresden. Doch verstanden hat sie nie, wieso man die Stadt derart zerstörte. "Es war ja bekannt, dass so viele Flüchtlinge und Kinder da waren, da war ja die russische Front nicht mehr weit." 1992 fährt sie zum zweiten Mal in ihrem Leben nach Dresden - um den Hauptbahnhof, den Bunker, die Gleise zu sehen. Doch die Stadt hat sich zu sehr verändert. Sie findet die Plätze nicht mehr.

Luftangriffe auf Dresden 1945

Die Bombardierung des 630 000 Einwohner zählenden Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 war der schwerste Luftangriff auf eine Stadt im Zweiten Weltkrieg. Zunächst warfen 773 britische Bomber in zwei Angriffswellen gewaltige Mengen an Sprengbomben ab. Aufgrund der nun zerstörten Dächer und Fenster, konnten die danach abgeworfenen Brandbomben (rund 650 000) eine größere Wirkung entfalten. Etwa 80 000 Wohnungen fielen dem Feuer zum Opfer. Dem britischen Nachtangriff auf die ungeschützte Stadt ohne Luftabwehr folgte am nächsten Tag eine Flächenbombardierung durch 311 amerikanische Bomber. Die US-Luftwaffe griff das bereits vollständig zerstörte und mit schlesischen Flüchtlingen überfüllte Dresden erneut am 15. Februar an. Insgesamt kamen um die 25 000 Menschen ums Leben. Tagelang lagen die verkohlten Toten noch auf Straßen oder in Trümmern, bis die Leichenberge zur Verhinderung von Seuchen verbrannt werden konnten. Bis zum Jahresbeginn 1945 war Dresden als einzige deutsche Großstadt nahezu unbeschädigt geblieben, obwohl es ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen Prag, Berlin, Leipzig, Nürnberg und Warschau war. Neben kleineren Rüstungsbetrieben gab es dort einige größere Flugzeugwerke und Industrieanlagen, die zu dem Zeitpunkt aber keine kriegswichtigen Angriffsziele für Verkehr und Industrie mehr darstellten. Die Zerstörung der Stadt war der Höhepunkt gezielter Flächenbombardements der Alliierten auf die deutsche Zivilbevölkerung. Damit sollte deren Moral gebrochen werden. Die Nationalsozialisten nutzen den Angriff zu Propagandazwecken und appellierten an das Durchhaltevermögen der Deutschen. sobu

Mit ihren Eltern hat Elisabeth Schuhbauer nur selten über die Flucht gesprochen. Sie haben den Verlust ihrer Heimat nie ganz verkraftet. Mit der jüngeren Schwester dagegen schon - beide hatten das Leben ja noch vor sich. Die Erinnerungen an Dresden werden die 90-Jährige zwar immer begleiten. Doch mittlerweile kann sie darüber reden. Und auch schnell wieder Scherze machen.

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