Es ist ein Montagmittag. Nik Mayr steht auf einer Leiter und hebt beide Arme über seinen Kopf. Neben ihm legt Annett Segerer eine Lampe auf die Anrichte des Waschbeckens. Mit festen, schnellen Drehbewegungen hantiert Mayr über seinem Kopf an der Decke umher, während Segerer die Leiter festhält und den Blick nach oben zu Mayrs Händen richtet. "Ah, jetzt geht's endlich", sagt Mayr. Das Licht, das nun aus der Damentoilette im Erdgeschoss hinaus ins Foyer des Theater Wasserburg drängt, leuchtet ein wenig heller als zuvor. "Die Halogen-Lampen sind ständig kaputt gegangen", sagt Mayr wenig später. "Das hat echt genervt, also haben wir die jetzt alle mal gegen LEDs getauscht."
Die aktuelle Spielzeit des Theater Wasserburg ist eine besondere - und das nicht nur, weil es auf der Damentoilette nun neue Lichter gibt. Es ist auch die Spielzeit, in der das Theater sein 20-jähriges Bestehen feiert, und von 26. April an erstmals seit der Corona-Pandemie wieder für zwölf Tage das Festival "Wasserburger Theatertage" beherbergt, bereits zum 16. Mal.
Fast von Beginn an mit dabei ist Theaterleiter Uwe Bertram. Bei 50 Inszenierungen hat er in den bald 20 Jahren, die er am Haus ist, Regie geführt - ein Plakat an der Treppe im Foyer zählt sie allesamt auf. Darüber baumelt ein Markenzeichen des Hauses, das bei jedem, der zum ersten Mal hier ist, Gesprächsthema ist: die Garderobe. Vor Beginn der Veranstaltungen hängt die Leiste so weit herab, dass Gäste dort Jacken und Mäntel aufhängen können. Während der Events fährt die Garderobe per Knopfdruck nach oben bis unter die Decke. Wie praktisch. Nur für diejenigen nicht, die mitten während einer Vorstellung das Weite suchen möchten. Aber das ist in 20 Jahren vermutlich noch nie vorgekommen - wieso auch, wenn doch jede Inszenierung eine Wohltat für Theaterfreunde ist?
Bertram sitzt an seinem Schreibtisch im ersten Stock, zu dem ein langer Flur führt, links und rechts gesäumt mit Plakaten vergangener Inszenierungen. Großer Holztisch in der Mitte, darauf ein eleganter Aschenbecher und ein schlanker Laptop, ringsherum Bücher, Ordner, Fotografien aus früheren Stücken und eine Spirituosensammlung.
"Eigentlich bin ich ja Schauspieler", sagt Bertram. Der gebürtige Magdeburger studierte Schauspiel, danach war er sechs Jahre im Ensemble am Volkstheater Rostock und von 1996 an unter anderem am Residenztheater in München. Auch Fernseherfahrung hat er gesammelt, etwa vor 22 Jahren in einer Tatort-Folge. Seit er aber das Wasserburger Theater leitet, hat er in nur vier Inszenierungen am Haus gespielt. Wie kommt das?
"Ich finde es immer komisch, am eigenen Haus zu spielen", sagt er. "Da stehe ich dann inmitten des eigenen Ensembles - nein, es ist einfach komisch." Zuletzt hat er im Stück "Pension Schöller" gespielt, das war 2019. Regie führte Nik Mayr, der soeben in der Damentoilette LEDs angeschraubt hat. "Im Theater ein Stück zu inszenieren und gleichzeitig darin als Schauspieler mitzuwirken, halte ich für unsinnig", sagt Bertram. "Das wirkt eitel." Hinzu komme, dass man immer weiß, wie es richtig geht, solange man nicht selbst mittendrin dabei sei - der Abstand zum Ensemble auf der Bühne, die Außenperspektive, die ein Regisseur auf das Werk einnimmt, sie sei notwendig für eine gelungene Inszenierung.
Eine gelungene Inszenierung hat es im vergangenen Winter trotzdem nicht gegeben. Weil es gar keine Inszenierung gab, Corona sei Dank. Eigentlich hätte Bertram zuletzt mit 25 Prozent Auslastung und gängigen Hygienemaßnahmen öffnen dürfen. Aber bereits bei 50 Prozent Auslastung und Mindestabständen blieben nur 42 Plätze im Parkett. "Wir sind abhängig von Kartenverkäufen, weil wir ein privates Theater sind", erklärt Bertram. Bei 2500 Euro Produktionskosten pro Abend für eine größere Inszenierung mit vielen Mitwirkenden auf der Bühne brauche es dementsprechend schon ein bisschen mehr als 21 zahlende Gäste bei 25 Prozent Auslastung, um keine roten Zahlen zu schreiben.
Vor Corona hat das Team eine Spielzeit im Voraus geplant. Es gab eine Klausur in Österreich, ein paar Tage weg sein, gemeinsam diskutieren und beraten, auf welche Themen und dazu passenden Stücke man in diesem Jahr den Fokus legen wolle. Corona machte das bislang nicht mehr möglich.
Während der Spielpause hat sich das Ensemble einen Vorrat an Stücken bewahrt, um jederzeit wieder vor Publikum spielen zu können. Im Februar war es dann soweit. Eigentlich hätte dann das Zwei-Personen-Stück "Sunshine" von William Mastrosimone mit Regina Alma Semmler und Hilmar Henjes seine Premiere feiern sollen. "Aber wir durchleben ja schon den nächsten Wahnsinn", sagt Bertram. "Wir haben uns angesichts des schrecklichen Kriegs in der Ukraine nicht in der Lage gesehen, eine leichte Komödie wie Sunshine zu spielen." Die Premiere ist nun für Herbst angesetzt, stattdessen war "Das Tagebuch der Anne Frank" aus der vergangenen Spielzeit mit Annett Segerer zu sehen. Und aktuell laufen die letzten Vorbereitungen für die Wasserburger Theatertage, die am 26. April beginnen. Bis zum 7. Mai wird jeden Abend ein anderes ausgewähltes bayerisches Privattheater mit einer Produktion zu Gast sein.
Es sind kleine Theaterhäuser, die mitmachen. "Großstadttheater ist Bullshit", sagt Bertram. Er meint damit die behauptete Polarität zwischen Großstadt- und Provinztheater, wie das Wasserburger Haus eines ist. Großstadt gleich intellektuell und ernsthaft. Provinz gleich kurzweilig und Blödelschiene. Aber so müsse es nicht sein, sagt Bertram.
Wasserburg macht nachhaltiges Theater, bringt aktuelle Themen und Vielfalt auf die Bühne - Schauspiel, auch für Kinder und Jugendliche, Tanz- und Musiktheater. Theater wird hier nicht als statische Kunstform interpretiert: So gibt es auch mal ein Live-Hörspiel wie 2018 mit "13 ½ Leben des Käpt'n Blaubär" oder Lesungen wie die monatlich stattfindende "Betreutes Trinken"-Reihe.
Grundsätzliche Entscheidungen seien wichtiger als welches Stück en detail inszeniert wird - Theater dürfe keine Eitelkeitsbefriedigung sein, so Bertram. Theater müsse sich wagen. Nicht nur in der Großstadt. "Man muss sich dem Stereotyp eines Provinztheaters nicht fatalistisch unterordnen", sagt Bertram.
Das tut das Wasserburger Theater seit jeher nicht. Das hat viel mit Bertrams Stil zu tun. Aber ein ebenso großer Anteil liegt an dem festen Team um ihn herum: Regina Alma Semmler, Annett Segerer, Constanze Dürmeier und Nik Mayr. Seit etlichen Jahren arbeiten sie am Haus - am längsten dabei ist Segerer, seit 2003, am kürzesten Dürmeier, seit 2009.
"Wenn man sich schon so lange kennt, dann weiß man oft, was der andere meint noch bevor ein Satz zu Ende gesprochen wurde", sagt Semmler. Das merkt man. Eine Theaterfamilie durch und durch. So waren bei der jüngsten Premiere vor der Corona-Pause im Oktober alle da - obwohl von diesem Fünferteam nur Mayr, Segerer und Dürmeier am Stück beteiligt waren. Danach wurde geratscht und getrunken, gelacht und gefeiert. Gemeinsam.
Segerer leitet seit drei Jahren das Kinder- und Jugendtheater, sie spielt, führt Regie und ist in vielen Fällen für Kostüme und Bühnenbilder verantwortlich. Semmler spielt nicht nur, sondern kümmert sich auch um Tanz, Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung. Dürmeier ist die "Haus- und Hof-Assistentin" von Bertram, wie sie selbst sagt: Häufig ist sie die Regieassistentin der Stücke. Sie schreibt an Theatertexten mit, erledigt die Kasse und die Buchhaltung. Nik Mayr spielt, führt Regie, leitet die "Betreutes Trinken"-Lesereihe - und ist der Mann für die Technik. Auch, wenn es mal um LED-Lichter auf der Damentoilette geht.