Tassilo:Ein Mal im Leben

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Der Zornedinger Matthias Gerstner öffnet als Programmgestalter, Musiker und Chorleiter den Menschen Ohren und Geist für selten schöne Musik

Von Ulrich Pfaffenberger

Bach, Vivaldi, Telemann: Das sind vertraute Elemente sakraler Musik. Im Lauf ihres Lebens bekommen auch weniger eifrige Besucher von Kirchenkonzerten so viel von deren Werken mit, dass sie sich ein Klangbild machen und beim Wiedererkennen gelassen nicken können. Im Landkreis Ebersberg kommen Freunde gepflegter Klassik so oberflächlich nicht davon. Denn dort hat anno 2000 der Zornedinger Kirchenmusiker Matthias Gerstner die Reihe "Bach & More" ins Leben gerufen - die allen Vorbehalten und Vermutungen zum Trotz, dem Gestalter könnten irgendwann die Stücke ausgehen, bis heute besteht. Mehr noch: In zwei Jahrzehnten und gut 70 Konzerten hat es noch kein Programm zwei Mal gegeben.

Es begegnen einem nur selten Musiker, die eine so profunde Kenntnis der Literatur haben wie Matthias Gerstner - und dieses Wissen zudem regelmäßig lebendig werden lassen. Denn seine Programme, in der Regel auf eine zuhörerfreundliche Stunde verdichtet, sind alles andere als Aneinanderreihungen von Stücken. Wie Altarbilder komponiert er, der meist am Cembalo oder an der Orgel durch die Konzerte führt, ein Szenario, das kleine Soli hier, heitere Menuette dort, einfühlsame Sonaten dazwischen, eine Art Oper im besten Sinn des Wortes entstehen lässt: ein musikalisches Gesamtwerk, an dem sich das Ohr erfreut und der Geist stärkt.

Der Zornedinger Matthias Gerstner gestaltet seit 20 Jahren aus musikalischen Preziosen Gesamtkunstwerke. (Foto: Christian Endt)

Was manchmal beim ersten Durchlesen der stets schlichten Programmzettel wie ein Wagnis anmutet, wandelt sich bei der Durchführung regelmäßig in ein Wunder. Mitunter begleitet von verblüffenden Erscheinungen, wenn da auf einmal auch Ennio Morricone und Astor Piazzolla erklingen. Oder wenn mit "Tagebuch - Ein Singspiel zu Jochen Klepper" das "More" der Reihe bis ins Jahr 1942 und ins KZ reicht. Es sind solche Preziosen der Musikgeschichte genauso wie die mutigen Exkursionen und energiegeladenen Geistesblitze, deretwegen man Gerstners Konzerten das "ein Mal im Leben" attestieren darf. Es bedarf unerschöpflicher Leidenschaft für Musik wie bei Gerstner oder des Angebots einer musikalischen Weltstadt, um im Lauf von gut 20 Jahren alle jene Werke aus rund 500 Jahren Musikgeschichte einmal live hörbar zu machen, wie es im Landkreis Ebersberg in dieser Zeit geschah.

Die Freude am Enthüllen des Verborgenen, Vergessenen oder Übersehenen beschert Gerstners Arbeit eine zusätzliche Qualität: In Musikerkreisen spricht sich derlei herum, und so kommen nach Baldham, nach Möschenfeld, nach Keferloh und nach Zorneding dann auch Künstler, die eigentlich bekanntere Adressen gewohnt sind. Sie kommen nicht nur einmal oder zweimal, sondern immer wieder - und manchmal auch zu Terminen wie dem jährlichen Silvesterkonzert, jener heiter-besinnlichen Stunde mit Bläsermusik zum Jahresausklang, die ohne Zögern andere Jahresendrituale vergessen lässt. Man trifft dort nicht die Verwandtschaft, aber jeden 31. Dezember wieder vertraute Menschen, von denen man nicht mehr zu wissen braucht, als dass sie ebenfalls gern wiederkommen.

Die Programme von Gerstner sind in der Regel auf eine zuhörerfreundliche Stunde verdichtet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bei beiden Chören, die Gerstner leitet, vernimmt man auf den ersten Ton, wie gut er es versteht, mit musikbegeisterten Laien zu arbeiten. Seit 2006 leitet er das kleinere Ensemble Con Voce, das er selbst gegründet hat. Im J ubilate-Chor betreut er einen zweiten, größeren Klangkörper, der schon seit mehr als 30 Jahren besteht. Beide Male hört man auf den ersten Takt das Charakteristikum dieser Gruppen heraus, die weitertragen, was der Dirigent ihnen vorlebt: Uneitel und hellwach stellen die Sängerinnen und Sänger sich in den Dienst der Werke, die sie aufführen. Es ist diese Aufmerksamkeit gegenüber Komposition, Komponist und Publikum, das jede Aufführung zu einer persönlichen Begegnung werden lässt, in der das Medium "Chor" heißt und die Wirkung "Leben".

Matthias Gerstner dirigiert dabei so unauffällig, dass man geneigt ist, ihn nicht mehr in der Gegenwart wahrzunehmen. Vielmehr spürt man das Ergebnis einer Vergangenheit, in der er mit ausgeprägtem Sinn fürs Wesentlich seine Sängerinnen und Sänger hat die Stücke erkennen und erarbeiten lassen. Das ist für alle Beteiligten dieser Konzerte ein Quantum mehr Glück im Leben.

Was man getrost auch dem Kinder- und Jugendchor unterstellen darf, der zum Pflichtpensum jeden Kirchenmusikers gehört. Wer Gerstner über die Jahre hinweg beobachtet, kann feststellen, dass daraus längst eine Kür geworden ist, die über verlängerte Schulbänke und die Nachwuchsrekrutierung für Erwachsenenchöre weit hinausgeht. Als Pädagoge an der Musikschule Vaterstetten verfügt der Zornedinger über einen Zugang zu den jungen Stimmen, der über das Liturgische hinausgeht. Unter dem Namen Crescendo betreut er rund 120 Kinder und Jugendliche in drei Altersstufen, denen er buchstäblich eine Bühne bietet, um ihr Talent glänzen zu lassen. Das jährliche Musical, das dann durch den Landkreis tourt, ist ein weiteres "ein Mal im Leben". Denn was die Acht-, Elf- oder Fünfzehnjährigen von diesen Auftritten mitnehmen, ist unwiederholbar, einzigartig, für manche prägend.

© SZ vom 06.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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