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Tafeln im Landkreis Ebersberg:"Man muss oft teilen, damit jeder etwas bekommt"

Lesezeit: 6 min

Mehr Bedürftige melden sich, aber die Zahl der Lebensmittelspenden ist rückläufig. Die Tafeln im Landkreis Ebersberg stoßen an ihre Grenzen.

Von Sina-Maria Schweikle, Ebersberg

Das kleine Mädchen mit dem dunklen Pferdeschwanz strahlt. In ihrer Hand hält sie ein buntes Set an Stickern: Zebras, Einhörner und vor allem ganz viel Glitzer. Sie blickt sich weiter um. Auf dem Tisch vor ihr liegen Schulhefte, Blöcke und eine Box mit Stiften. "Ist das für die Schule? Mein Bruder darf dort bald hin", sagt sie und schaut sich nach ihm um. Er steht mit einer Tasche in der Hand vor einem Regal, in dem Brote liegen. Daneben reihen sich Kisten mit Obst und Gemüse. "Du kannst dir aussuchen, was du magst", erklärt ihm eine Dame und reicht ihm einen Viertellaib Brot.

"Die Tafel ist für alle da", sagt Marile Ketterl. Seit vielen Jahren schon unterstützen sie und rund 25 Helferinnen und Helfer die Organisation in Ebersberg. Gemeinsam haben sie schon viel erlebt - doch das, was sie in diesem Jahr erleben, sei besonders schwer. "Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine kommen mehr Menschen zu uns, die Hilfe benötigen", sagt Liane Spiegelberg, Koordinatorin der Tafel Ebersberg im Auftrag der Diakonie Rosenheim. Ziel der Tafel ist es, Lebensmittel vom Einzelhandel zu retten, um Bedürftigen damit zu helfen. Jeden Donnerstag ist Ausgabetag im Nebenraum der evangelischen Kirche Ebersberg. Wöchentlich organisieren sich die Ehrenamtlichen und bringen Gemüse, Brot, Fleisch und vieles mehr mit für die, die nicht wissen, wie sie sich sonst ihre Mahlzeiten leisten sollen.

Im kleinen Raum im Untergeschoss herrscht geschäftiges Treiben. Felix Minicuta bezog einst selbst Lebensmittel von der Tafel - heute packt er mit an und trägt die schweren Kisten die schmale Treppe herunter. Dort warten die Frauen mit orangener Schürze auf ihn - die meisten von ihnen im Rentenalter - und sortieren die Lebensmittel in Kästen. Die Stimmung ist gut und es wird viel gelacht. "Wir machen das schon lange zusammen", sagt Marile Ketterl. Warum sich die Damen teilweise schon seit 20 Jahren jede Woche für mehrere Stunden ehrenamtlich bei der Tafel einsetzen? "Man will was weitergeben." Doch die Situation ist schwierig. "Im Vergleich zu anderen Ausgabetagen haben wir heute weniger Lebensmittel", sagt Liane Spiegelberg. Die Kunst, sagt sie, sei es, die erhaltene Menge an die Bedürftigen zu verteilen.

"Man muss oft teilen, damit jeder etwas bekommt"

Etwa 20 bis 30 Haushalte haben vor dem Ukraine-Krieg wöchentlich Hilfe bei der Tafel gesucht. Mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist die Zahl auf mehr als 65 Haushalte gestiegen, sagt Liane Spiegelberg. Damit bei der Ausgabe alles rund und fair läuft, erhält jeder Kunde einen Tafelausweis. Darauf zu lesen ist neben dem Namen auch die Zusammensetzung der Familie. Dementsprechend werden die Lebensmittel verteilt. Am Ausgabetag erhält jeder eine Losnummer. In der Reihenfolge dieser Nummern ist dann der Zugang zur Tafel geregelt. "Man muss oft teilen, damit jeder etwas bekommt", sagt Elfriede Bojer.

Sie unterstützt die Tafel Ebersberg schon seit ihrer Gründung 2002. Damals war es die erste Tafel im ganzen Landkreis. Mittlerweile sind es knapp zehn. Als sie die Arbeit im Jahr 2002 aufgenommen haben, sagt Elfriede Bojer, wurden alle Spenden in einen Container geworfen "danach mussten wir sie mit den Händen rausholen", erinnert sich die 85-Jährige. Heute sind die Dinge anders. Zum einen seien die Menschen sensibilisierter im Umgang mit Lebensmitteln, und auch organisatorisch habe man einiges gelernt. Ein Lernprozess, der sich auch auf die schwankenden Kundenzahlen übertragen zu haben scheint. "Zu Beginn unserer Arbeit haben wir viele Einheimische unterstützt. Dann kamen Menschen aus Russland. 2015 Geflüchtete aus aller Welt." Und heute? Heute habe man so viele Kunden wie noch nie, sagt Elfriede Bojer.

Die Geschäfte planen ihren Bedarf mittlerweile besser, dadurch bleibt weniger Essen übrig

Da die Waren für den gestiegenen Bedarf nicht mehr ausreichen, ist der regelmäßige Zukauf von Lebensmitteln notwendig geworden. Diesen Zukauf von Waren hat sich die Tafelbewegung in ihren Grundsätzen selbst zwar weitgehend untersagt, aber aufgrund der aktuellen Situation könne man die Menschen ansonsten nicht ausreichend versorgen, sagt Liane Spiegelberg. Auch ein Grund: Die Geschäfte planen besser. So bleiben am Ende des Tages weniger Lebensmittel übrig oder werden zu Billigpreisen verkauft.

Die Gärtnerei Böck ist ein Unternehmen, das gerne an die Tafeln spendet. Insgesamt drei Tafeln erhalten Produkte aus Neufarn: Die Tafel in Poing seit 15 Jahren, Vaterstetten seit drei Jahren und Ebersberg seit diesem Jahr. "Das gehört für uns zur Selbstverständlichkeit. Wir wissen, dass es viele Menschen und vor allem Familien schwer haben und sind sehr dankbar für unser Leben", sagt Florian Böck.

Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges haben die Tafeln bundesweit deutlich mehr Kundinnen und Kunden, auch in Bayern, sagt Peter Zilles, Vorsitzender des Vereins Tafel Bayern. Insgesamt 172 Tafeln gibt es im Freistaat, manche können aufgrund der Situation schon keine neuen Kunden mehr aufnehmen. Doch mit diesem Aufnahmestopp, sagt Zilles, werde das Problem nur aufgeschoben. Andere Tafeln hätten ihre Öffnungszeiten verlängert, wieder andere zusätzliche Verteiltage eingerichtet. Und auch der sonst nicht so gern gesehene Zukauf von Lebensmitteln wurde den Tafeln in den vergangenen Monaten gestattet. Eine Hilfe, die viele Tafeln gerade über Wasser zu halten scheint.

Die Teuerung bei Lebensmitteln trifft auch und besonders die Tafeln

So auch bei der Tafel in Zorneding. "Vor den Ukraineflüchtlingen waren die Lebensmittelspenden ausreichend. Durch die hohe Zahl der Neukunden müssen wir Lebensmittel preisgünstigst zukaufen", sagt Franz Bachl, Vorsitzender der Zornedinger Tafel. Die Preissteigerungen bei den Lebensmitteln machen auch seiner Einrichtung zu schaffen, gerade wenn Lebensmittel zugekauft werden müssen. Ähnlich geht es anderen Tafeln im Landkreis.

Spendengelder werden zum Teil auch zentral an die Tafeln verteilt. So hätten beispielsweise die Tafeln in Grafing, Vaterstetten, Ebersberg und Zorneding einen Tankzuschuss erhalten, sagt Peter Zilles. Mit den nächsten Auszahlungen sollen die Tafeln dann bei den Energiekosten unterstützt werden.

"Geldspenden sind wichtig und wir sind dankbar dafür. Aber wir brauchen dringend Sachspenden", sagt Oliver Westphalen. Er ist Geschäftsführer der Nachbarschaftshilfe Vaterstetten. Auch die Tafel Vaterstetten-Grasbrunn steht seit dem Ukraine-Krieg inmitten einer Versorgungsnot. Und so müssen auch sie sich mit Zukäufen behelfen. Doch ab Oktober werden diese nicht mehr möglich sein, sagt Westphalen. Deshalb sei es wichtig, dass Lebensmittel und andere Sachspenden abgegeben werden. Damit man als Spender weiß, welche Lebensmittel aktuell benötigt werden, hat die Tafel in Vaterstetten einen Wunschzettel auf ihrer Internetseite hinterlegt.

In Grafing steht man ebenfalls vor einer großen Herausforderung. "Seit Ausbruch des Krieges haben sich die Kunden verdreifacht - es gibt doppelt so viele Geflüchtete wie Stammkunden", sagt Alexander Frederik Koelbl. Er ist Ansprechpartner für die Grafinger Tafel. Aber es sind nicht nur Menschen aus der Ukraine, die Unterstützung suchen. Auch die Anzahl der Deutschen in Armut wächst. Immer wieder kommen Neukunden aus Grafing, Vaterstetten und auch aus Ebersberg zu den Verteilungen.

Laut Paritätischem Armutsbericht hat die Armutsquote in Deutschland mit einem Stand von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr 2021 einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen werden vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zu den Armen gerechnet - 600 000 mehr als vor der Pandemie. Doch was bedeutet Armut? In der Europäischen Union gelten Personen als arm, die monatlich weniger als 60 Prozent des nationalen Mittelwerts verdienen. In Deutschland entspricht dies monatlich 1148 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt und 1721 Euro für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen.

Im Ländervergleich hebt sich der Freistaat zwar positiv ab - doch die Inflation und besonders die Teuerung von Lebensmitteln macht auch hier vor den Menschen nicht Halt. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes stiegen die Preise für Nahrungsmittel im Vergleich zum Vorjahr allein um 16,6 Prozent. Dazu werden in den kommenden Monaten wohl noch steigende Energiepreise und andere Lebenshaltungskosten kommen.

Die Kommunalpolitik tut ihr Bestes

Eine schwierige Situation vor allem für die, die sowieso schon wenig haben. Die Sätze der Sozialhilfe orientieren sich am Existenzminimum. Sie werden vom Staat für jeweils ein Jahr berechnet und wurden am 1. Januar dieses Jahres für Alleinstehende von 446 Euro auf 449 Euro angepasst, die nach Abzug von Miete und Nebenkosten zum Leben zur Verfügung stehen sollen. Im kommenden Jahr sieht der Staat 502 Euro für Alleinstehende vor.

Die Erhöhung um drei Euro in diesem Jahr ergab sich aber aus einer Zeit, als Inflation und Krieg noch keine Rolle spielten. "Auf den Krieg in der Ukraine war keiner vorbereitet, und die Kommunalpolitik tut ihr Bestes, um uns in den Tafeln zu unterstützen", sagt Liane Spiegelberg. So unterstützte die Stadt Ebersberg ihre Tafel in diesem Jahr mit 3000 Euro und Landrat Robert Niedergesäß lancierte, so sagt es die Helferin, eine Sonderausschüttung der Sparkassenstiftung für die Tafeln im Landkreis. "Das zeigt einen Ausweg für die derzeitige Lage der Tafeln auf", sagt sie weiter.

Für die Menschen selbst ist die Lage äußerst schwierig. "Mit einem Regelsatz von 449 Euro kann doch niemand leben", sagen die Helfer und Helferinnen aus Ebersberg. Auch deshalb sind die Tafeln wichtig: Die Ehrenamtlichen verstehen die Probleme ihrer Kunden und begleiten sie teilweise schon Jahre. Seit 2012 kommt Kiwi, die ihren Namen anonym halten möchte, in die Tafel. "Es ist wie eine Familie. Hier findet man Trost und Halt. Alle sind füreinander da."

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