SZ-Serie: Wortschatz, Folge 6:Sich fügen, heißt lügen

Lesezeit: 4 min

Leonhard M. Seidl hat sich nach Isen zurückgezogen, um in seiner "Arbeiterstube" deftige historische Stoffe und Krimis zu schreiben

Von Philipp Bovermann, Isen

Leonhard M. Seidl schlägt sein Buch auf, um an einem kalten Dezemberabend von der Revolution zu erzählen. Ein paar unerschütterliche Kulturmenschen sitzen in Schals gehüllt und gucken treu. Die kleine "Kulturschmiede Sendling" hat den Isen lebenden Autor in ihre "Revolutionswerkstatt" nach München eingeladen. Es ist eins der vielen Jubiläumsprogramme zu hundert Jahren Münchner Räterepublik, wahrscheinlich das am wenigsten glamouröse von allen. Genau deshalb vielleicht auch das angemessenste.

69 Lebensjahre haben Seidls Gesicht aufgeweicht. Die Mundwinkel sind im Lauf der Zeit abgerutscht. Wie lang es denn heute gehen soll, will einer wissen. "Um halb neun sind Sie erlöst." In seinem 2013 veröffentlichten Roman "Novemberlicht", aus dem er vorliest, schildert er die Ereignisse der Münchner Revolution aus der Sicht eines fiktiven Arbeiterkämpfers. Zwischendurch singt er alte Revolutionsgedichte und klampft dazu auf der Gitarre: "Sich fügen, heißt lügen, sich fügen, heißt lügen." Seidl erzählt von der Schlacht um Giesing, der "Hochburg des Widerstands", in die sich die fliehenden Arbeiter zurückgezogen haben. Soldaten des Freikorps fallen in eine Kirche ein, grölen, pinkeln ins Taufbecken. "Die auf der Kanzel versteckten Giesinger haben sich vor Angst" - ein langer, ausdrucksloser Blick ins Publikum - "in die Hose geschissen."

Im Roman ist gerade November 1918. "Noch ein paar Monate, dann ist schon wieder alles vorbei", sagt Seidl in der Pause. "Das mit den Revolutionen ist eine vorübergehende Sache." Er schüttelt den Kopf, winkt ab, blickt zur Seite ins Leere. Am Ende des Abends sagt er Pfia Gott und marschiert mit seinen Trekkingschuhen in die Münchner Nacht hinaus zu seinem Toyota Yaris. Er zieht sich die Handschuhe an, denn das Lenkrad ist kalt.

München bei Nacht, eigentlich müsste das Seidls Element sein. Die Stadt war in seinen Kriminalromanen, auf die er sich in den letzten Jahren als Schriftsteller hauptsächlich verlegt hat, schon immer verkommen und trostlos. Sie besteht fast nur aus Verbrechen und aus Giesinger Boazn. Burschen, denen die Wampe über die Hose hängt, schütten dort "Stöffchen" in sich rein. In so einer miesen Spelunke, neben dem Klo, haust der Privatermittler Valentin Gaukler. Lebensmotto: "Mal verliert man, mal gewinnen die anderen." Der Münchner Moloch spült ihm Leichen vor die Füße, doch die Spur der Verbrechen versumpft regelmäßig im Kneipenzwielicht. Am Ende steht niemals Klarheit, Erlösung oder auch nur eine Bezahlung, sondern ein alles vernebelnder Bierdunst.

Im neuen Valentin-Gaukler-Roman "Besäufniserregend" ist die Ursache von Mord und Totschlag, dass die Blauen die Fahne der Roten geklaut haben und die Roten die Fahne der Blauen. Es geht um Fußball, es geht um den TSV 1860 München - und über den Umweg des Verbrechens auch um die Kindheit von Leonhard M. Seidl. Die fand in Giesing statt, direkt gegenüber vom "Sechzgerstadion", an der Grünwalder Straße 7. Der Vater hatte die Wohnung im vierten Stock nach dem Krieg ausgebaut, als Logenplatz zum Fußballgucken. Zu jedem Spiel füllte sie sich mit Bekannten. Dort oben am Fenster stand ein unsicherer, verträumter Junge namens Leonhard Michael neben dem Vater, einem angesehenen Handwerksmeister "mit goldenen Händen", wie der Sohn später sagen wird. Gemeinsam schauten sie runter auf Giesing, wo alles, was das Licht berührte, blau war. Sechzig-blau. Manchmal geht Seidl heute noch zu den Spielen im Grünwalder Stadion. Dann schaut er rauf zu der Wohnung in der Hausnummer 7, aber die Emotionen wollen nicht mehr kommen. Also schreit er. Gegen den Erzrivalen FC Bayern, gegen den Schiri, "denn ich kann ja nicht ins Wirtshaus gehen und da irgendwelche Leute anschreien". Er hat sich inzwischen eine eigene Fanloge eingerichtet, in einem Haus in Isen, Landkreis Erding, wohin er vor vierzig Jahren mit seiner Frau gezogen ist. Hier oben unter dem Dach, mit bestem Blick auf ein paar kahle Bäume, regiert noch der TSV, der Münchner Arbeiterverein, das alte Giesing. "Arbeiterstube" steht auf einem Metallschild auf der Tür. Hier schreibt er seine düsteren München-Krimis. Hier sitzt er und thront im Schreibtischstuhl. Auf dem Tisch unzählige Notizzettel. Skeptische Blicke für den Besucher. "Wie eine Spinne im Netz, die Angst vor der Fliege hat." So würde es Seidl beschreiben.

Der Boden ist mit Gitarrenkoffern bedeckt, die Wände mit Büchern, die Bücherregale mit Sechzger-Wimpeln und die Wimpel mit Fotos der Enkel. Früher hat er an kleinen Theatern Regie geführt und historische Romane geschrieben, aber "die Recherchiererei" ist ihm zu anstrengend geworden. Eine gerahmte Urkunde zeichnet ihn als Mitglied im "Syndikat" aus, der Autorengruppe für deutschsprachige Kriminalliteratur. Darauf steht ein Zitat von Seneca: "Per scelera semper sceleribus tutum est iter." Was das heißt, weiß Seidl nicht. Er hat kein Abitur. Stolz ist er darauf nicht, es ist ihm nur wurscht. In seinen Kriminalromanen hat auch keiner Abitur. Da hocken am Tresen "Männer wie geschmiedeter Stahl. Blue steel. Man möchte ihnen nicht bei Tag begegnen". Auch die Sprache: Wenn Valentin Gaukler aufwacht, dann weil das Handy "sein beschissenes Lied" singt. Vom stets restalkoholisierten Ermittler wird es "an die Wand geprügelt".

Das Zitat von Seneca lautet übersetzt: "Verbrechen führen stets zu neuen Verbrechen." Vielleicht hat Seneca Recht und Verbrechen ist Schicksal. Vielleicht wird, wer sich zu lange mit der düsteren Seite des Lebens beschäftigt, selbst düster. Leonhard M. Seidl jedenfalls ist ein trauriger Mann. Er beschäftigt sich mit einer Welt, die ohne Hoffnung ist. Er erweckt sie zum Leben, wenn er schreibt. Wie jeder echte Melancholiker, hält er etwas die Treue, was verloren ist. Er würde so was wahrscheinlich nie über sich selbst sagen. Sondern abwinken und zur Seite ins Leere starren.

Aber Seidls Augen können auch leuchten. Nämlich wenn man ihn auf seine Frau anspricht. Er nennt sie "das Glück meines Lebens" und findet es "unglaublich", dass sie es 45 Jahre mit ihm ausgehalten hat, "mit so einem Wahnsinnigen". Wenn er allein wäre, sagt er, würde er "irgendwo untergehen", wobei er eine imaginäre Flasche zum Mund führt. Seine Frau, seine Kinder und Enkel trennen ihn von der Welt, die er in seinen Romanen beschreibt. Er hat es geschafft, nicht in ihr zu versinken. Und so wie er über seine Frau spricht, ahnt man: Er weiß, dass das nicht sein Verdienst war. Deshalb verurteilt er diese armen Teufel auch nicht, denen außer dem TSV und den gnädigen Blicken der Wirtin nichts geblieben ist.

Später an diesem Tag setzt er sich in seinen Toyota Yaris und fährt, umweltschonend mit Hybridantrieb, zur Konditorei "Oggi" nach Dorfen, um eine heiße Schokolade zu trinken und ein Stück Tiramisu zu essen. Mit der Kuchengabel in der Hand, umgeben von Weihnachtsdekoration, sieht er plötzlich aus wie ein Opa. Es steht ihm gut. Vielleicht kann der Fall des Arbeiter-Krimidichters aus Isen doch noch gelöst werden.

© SZ vom 04.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: