SZ-Serie Teil 4: Wohnen für alle:Wo die Not am größten ist

SZ-Serie Teil 4: Wohnen für alle: Etwa 500 Anfragen für Sozialwohnungen landen jedes Jahr auf dem Schreibtisch von Irmgard Gäßl. Doch nur etwa zehn Prozent der Hilfesuchenden kann sie etwas anbieten.

Etwa 500 Anfragen für Sozialwohnungen landen jedes Jahr auf dem Schreibtisch von Irmgard Gäßl. Doch nur etwa zehn Prozent der Hilfesuchenden kann sie etwas anbieten.

(Foto: Christian Endt)

Irmgard Gäßl entscheidet für das Landratsamt, bei welchen Anwärtern für Sozialwohnungen der Bedarf am dringendsten ist. Dabei hilft ein System, das mehr Objektivität schaffen soll. Und dennoch dauert die Suche nach Unterkünften oft sehr lange.

Von Annalena Ehrlicher, Ebersberg

"Insgesamt gibt es immer mehr Anfragen als Wohnungen", sagt Irmgard Gäßl von der Fachstelle für Soziales und Bildung im Landratsamt Ebersberg. Etwa 500 Fälle bearbeitet die 27-Jährige pro Jahr, wobei die Zahlen in den letzten drei Jahren nur minimale Schwankungen aufweisen und nicht etwa gestiegen sind. Dennoch könne nur zirka ein Zehntel der Personen vermittelt werden, so Gäßl.

Der Druck ist entsprechend groß, niemand kommt grundlos in ihr Büro. Letztlich muss entschieden werden, wer Vorrang hat, wobei gleichzeitig gilt: "Eine Warteliste haben wir nicht, das dürfen wir gar nicht. Alle sind im selben System abgespeichert." Wie aber soll man entscheiden, ob die Familie mit dem Schimmel in der alten Wohnung dringender etwas Neues braucht oder die, denen wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde?

Die Alleinstehende ohne Auto, die für einen neuen Job die S-Bahn-Anbindung braucht? Oder jemand, der von Altersarmut betroffen ist? "Ich halte mich ganz stark an die Tatsachen und lasse mir grundsätzlich alles nachweisen", so Gäßl. Im Fall von Schimmel? Fotos machen. Gesundheitsrisiko? Arztattest. Eigenkündigung? Schriftlich vorzulegen. "Die meisten Leute verstehen das und ich muss auch sagen, dass es mir noch nie untergekommen ist, dass jemand etwas nicht nachweisen konnte."

Ausgewählt wird nach einem Münchner Kriterien-Katalog

Für alles Weitere haben Gäßl und ihre Kollegen seit diesem Frühjahr ein Werkzeug, das objektive Entscheidungen erleichtern soll: Ein Punktesystem wie es in München seit Jahren verwendet wird, das anhand bestimmter Parameter eine Rangliste ermittelt, bei wem der Bedarf am größten ist. Berücksichtigt werden hierbei vor allem drei Fragen: Wie groß ist die Dringlichkeit, das heißt: Besteht schon Obdachlosigkeit? Warum wurde die alte Wohnung gekündigt? Will man einen eigenen Haushalt gründen, ist der Wohnraum zu knapp?

Das zweite Kriterium ist die Wohndauer im Landkreis: "Wenn jemand schon sein ganzes Leben dort verbracht hat, bringt das mehr Punkte als wenn er erst seit gestern gemeldet ist", sagt Gäßl. Was nach einem willkürlichen Kriterium klingen mag, lässt sich über die Attraktivität des Landkreises erklären: Die Nähe zu München macht Ebersberg besonders angespannt. "Wenn jemand nicht beruflich oder familiär ortsgebunden ist, dann schlagen wir manchmal vor, dass diejenigen sich von München wegorientieren", sagt Gäßl.

Mit entscheidend ist auch die etwaige Zugehörigkeit zu einem Personenkreis, der, so die Gesetzeslage, "privilegiert behandelt" wird. Dazu gehören Schwangere, Haushalte mit mehr als drei Kindern und Alleinerziehende. Ebenfalls besonders berücksichtigt werden junge Familien, Schwerbehinderte und ältere Menschen. "Dass man eine ältere Person nicht unbedingt für eine Wohnung in der vierten Etage eines Hauses ohne Aufzug vorschlägt, ist auch klar", sagt Gäßl.

Wie vermittelt man eine achtköpfige Familie?

Bei der Wahl der Kommune hat Priorität, dass Menschen nicht aus ihren Strukturen, etwa der Gemeinde gerissen werden. Niemand muss im Antrag den ganzen Landkreis angeben, "wobei das die Chancen auf eine schnelle Vermittlung natürlich steigert", sagt Gäßl. Ein Problem seien die Falschinformationen: "Wohnungen werden nicht zugewiesen", sagt sie.

Die Bezeichnung sei in doppelter Hinsicht irreführend: "Inzwischen kommen Leute zu mir, die am liebsten direkt einen Schlüssel in die Hand gedrückt bekommen würden." Zudem impliziere das Wort "zuweisen" einen Zwang, der keineswegs bestehe. Gäßls Aufgabe ist es, Leute für Wohnungen vorzuschlagen, "benennen" heißt es im Fachjargon. Mehr als fünf schlägt sie selten vor, Verhältnisse wie im freien Wohnungsmarkt will sie vermeiden. Die endgültige Entscheidung liegt dann beim Vermieter.

Durchschnittlich sagen von den fünf Leuten, die sich eine Wohnung anschauen, zwei ab. Die Gründe für Absagen sind vielfältig: Manchmal sei es die Farbe des Hauses, manchmal die Lage - manche Argumente seien besser nachvollziehbar andere weniger. Ebenso gemischt sind die Menschen, die bei Gäßl auftauchen. Grundsätzlich kann jeder einen Antrag stellen, der in Deutschland gemeldet und innerhalb der Einkommensgrenze ist.

Die Arbeit ist erst getan, wenn der Vertrag unterschrieben ist

Für Nicht-EU-Bürger kommt hinzu, dass ein mindestens für ein Jahr gültiger Aufenthaltstitel vorgelegt werden muss. "Es kommen viele Alleinstehende, gerade auch ältere", sagt sie, es seien aber auch viele Eltern mit Kindern dabei. "Momentan vermittle ich eine achtköpfige Familie", sagt sie. Eine echte Herausforderung, für diesen Fall etwas zu finden.

Sobald der Mietvertrag unterschrieben ist, ist Gäßls Arbeit getan. Auch hier liegt ein stetiger Irrglaube vor: Sozialbau, das klingt nach "irgendetwas vom Staat", wie sie sagt, nach Plattenbau und Abhängigkeit. "Ich höre oft den Satz 'wir wollen dem Staat nicht auf der Tasche liegen', dabei haben wir als Amt nach der Vermittlung gar nichts mehr damit zu tun", sagt Gäßl.

Einfach sei die Entscheidung, wer für welche Wohnung vorgeschlagen wird, nie. "Ich bekomme schon sehr viel aus dem Leben der Menschen mit", sagt sie. Das Punktesystem mache den Prozess für die Bewerber aber nachvollziehbarer und gerechter: "Ich bin nicht auf mein Bauchgefühl angewiesen und das macht es leichter."

Wie wehrt sich Ebersberg gegen die Wohnungsnot in einem Landkreis, der schneller wächst als alle anderen? Die Ebersberger SZ sucht in einer achtteiligen Serie nach Antworten. Die fünfte Folge erscheint am Samstag.

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