SZ-Serie: Wege des Herrn, Folge 10:Ein eigener Pilgerweg

Eine offizielle Route führt nicht nach Sankt Sebastian in Ebersberg. Wanderer gehen einfach dort los, wo sie eben herkommen

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Wenige Meter hinter dem gelben Schild, auf dem ein durchgestrichenes "Springlbach" prangt, erstreckt sich neben einem Schotterweg in Richtung Tulling dieses Weizenfeld. Jetzt im Juni ist das Getreide noch jung, etwa kniehoch, und unfassbar grün. Als ob jemand im Bildbearbeitungsprogramm die Sättigung um ein paar Grad nach oben geschraubt hätte, so sieht es aus. Die Mittagssonne knallt erbarmungslos auf den Kopf. Aber das ist egal, ein kleiner Raster muss trotzdem sein, um all das viele satte Grün bestaunen zu können. Ein Grün mit einem Fleck, inmitten von diesem ganzen Grün sticht ein tiefroter Punkt hervor. Es ist die Blüte einer einzelnen Mohnblume. Eine Metapher für diese Pilgerreise: Während der knapp 30 Kilometer Fußmarsch von Wasserburg bis Sankt Sebastian in Ebersberg herrscht Einsamkeit. Der einzige Pilger, weit und breit.

Die Wallfahrtsstätte Sankt Sebastian ist im Landkreis Ebersberg die älteste; bis ins 14. Jahrhundert war die Wallfahrt dorthin die bedeutendeste in ganz Südbayern. Es gibt Überlieferungen, wonach sogar regelmäßig Gruppen vom Bodensee bis nach Ebersberg pilgerten - das entspricht einem knapp 250 Kilometer langen Weg. Der Grund für die Beliebtheit der heutigen Kreisstadt als Wallfahrtsziel: die Hirnschale des heiligen Sebastian. Im Jahr 931 kehrte der Augustinerpropst Hunfried von einer Reise nach Rom unter anderem mit dieser Reliquie zurück nach Ebersberg. Im dritten Jahrhundert sollte Sebastian durch Bogenschützen hingerichtet werden, nachdem er sich öffentlich zum Christentum bekannte. Aber er überlebte. Erst nach einem weiteren Hinrichtungsversuch starb er schließlich. Heute ist er als Heiliger Schutzpatron gegen die Pest und einen jähen Tod.

Im Besprechungsraum des Ebersberger Pfarrbüros nimmt Josef Riedl an einem runden Tisch Platz. Er ist Dekan und Stadtpfarrer. "Früher sind oft ganze Pfarreien hierher gepilgert", sagt er. "Manchmal müssen da bis zu 1000 Leute unterwegs gewesen sein!" Damals sei es Brauch gewesen, dass jeder Wallfahrer einen Schluck Wein aus der Hirnschale des Heiligen und Namenspatrons der Ebersberger Kirche genommen hat. "Das hat aber nach ein paar Jahrhunderten wieder aufgehört." Die Weinsäure schädigte den Knochen. Als Alternative habe die Kirche einen Kelch angeschafft. Eine am Stiel eingearbeitete Figur stellt Sebastian dar - ein Sebastianskelch also. Um die Hirnschale vor dem Zahn der Zeit zu schützen, ist sie seit 1450 in einer Büste aufbewahrt. Durch zwei darin eingearbeitete Fenster ist sie zu sehen.

Der Weg

Start: Alte Innbrücke in Wasserburg

Ziel: Sankt Sebastian in Ebersberg

Wegstrecke: etwa 29 Kilometer

Gehdauer: mit Pausen acht Stunden

Kinderwagentauglich: gelegentlich

Fahrradtauglich: ja

Ansehen: Altstadt Wasserburg, Sandl-Kapelle bei Lutzhäusl (Pfaffing), Ebersberger Pfarrkirche Sankt Sebastian

Einkehren: Pfaffinger Hof in Pfaffing, Freitag bis Sonntag, 11 bis 14 Uhr, Gasthof Ramsl in Steinhöring, Montag bis Donnerstag 11 bis 14 Uhr, an Sonn- und Feiertagen bis 16 Uhr, Café Zimtblüte in Ebersberg, Montag bis Samstag 8.30 bis 18 Uhr, Sonntag ab 9 Uhr

Wasserburg, auf der alten Innbrücke: Der Pilgerweg von hier, über Edling nach Pfaffing, weiter nach Tulling und Steinhöring bis nach Ebersberg zu Sankt Sebastian ist kein "offizieller" Pilgerweg. Es ist nicht wie bei Jakobswegen, deren Etappen konkrete Startpunkte haben und bei denen gelbe Jakobsmuscheln auf Schildern am Wegesrand fixe Routen vorschreiben, bis hin zum Ziel, der Kathedrale im spanischen Santiago de Compostela. Wer nach Sankt Sebastian pilgert, der startet an der eigenen Haustür: Man geht da los, wo man herkommt. So heißt es. Überlieferungen von festgelegten Strecken gibt es keine. So gesehen kann sich jeder Pilger seinen ganz eigenen Weg nach Sankt Sebastian zurechtlegen. Oder den hier vorgeschlagenen nachlaufen: Der Start ist Wasserburg - ein schöner Ort, auch wenn man von woanders herkommt.

Zurück im Besprechungsraum des Ebersberger Pfarrbüros: "Mit dem Anwachsen der Andechser Wallfahrt ist die zu uns geschrumpft", sagt Josef Riedl. Diese Zeit begann im 14. Jahrhundert. Heute unternehmen nur noch etwa drei bis vier Gruppen im Jahr eine Wallfahrt nach Sankt Sebastian, aus Tuntenhausen oder Oberhaching zum Beispiel. Zu Fuß pilgert von diesen Gruppen niemand, sie kommen per Bus oder Auto. Das "Wie" des Pilgerns sei aber nicht wichtig, so Riedl. "Wallfahren ist eine geistige Übung." Man könne genauso gut im Bus sitzen und in sich kehren - die geistige Übung namens Wallfahren sehe bei jedem eben anders aus.

Wer in Wasserburg groß geworden ist, hat unweigerlich ein Wiedersehen mit der eigenen Vergangenheit: Da ist die Bar, in der unzählige Abende verbracht wurden. Wenig später geht es an der Parkbank vorbei, auf der es einst zum unverhofften Kuss mit dem Jugendschwarm gekommen ist. Den Köbingerberg hinauf, der als Kind furchtbar gruselig und steil war - vielleicht war er gruselig, gerade weil er so steil war. Dann kommt diese Spielplatzschaukel, verbunden mit der im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaften Erinnerung an den Sturz von ihr in das viel zu harte Gras. Und dort ist der Parkplatz, Treffpunkt zu Teenagerzeiten, um heimlich mit einer damaligen Freundin zu rauchen.

Es ist anders als sonst beim Besuch in der Heimat. Auch da ploppen ab und an Bilder von früher vor dem geistigen Auge auf. Durch das Pilgern aber, durch die Laufbewegung, das stetige Vorwärts, Schritt für Schritt, dadurch wird die Erinnerung ein Begleiter, der unentwegt freudig nebenher trabt. Es ist eine merkwürdige Art von Zeitraffer durch die eigene Kindheit und Jugendzeit, zwar nicht chronologisch, aber stetig löst eine Erinnerung eine vorangegangene ab.

Im Ebersberger Pfarrbüro sitzt Josef Riedl immer noch am Besprechungstisch. Es habe Tradition, dass jeder Pilger einen Sebastianspfeil bekommt, sagt er. "Das ist sozusagen eine Reliquie zweiter Ordnung." Denn die etwa zwei Zentimeter langen aus Zinn handgegossenen Pfeile seien zuvor mit der Hirnschale Sebastians in Berührung gekommen. Der Pfeil ist ein Attribut des Heiligen - nicht nur, weil er durch Bogenschützen sterben sollte: Lautlos und schnell kommt ein Pfeil daher, ebenso wie die Pest und ein plötzlicher Tod. Neben einem Ausdruck der religiösen Verbundenheit habe das Aushändigen solcher Pfeile auch einen praktischen Grund gehabt, erzählt Riedl: als Nachweis für die Pilger ihren Chefs gegenüber, dass sie tatsächlich auf der Wallfahrt unterwegs waren.

Auf der Pilgerreise liegt der Heimatort irgendwann im Rücken - und der Kopf wird leer. Nun geht es ausschließlich ums Jetzt, ums Laufen. Nach Pfaffing werden die Straßen kleiner, die Autos weniger, Häuser tauchen nur noch alle paar Kilometer auf, selten muss der Weg mit einem Radler geteilt werden - und die Vergangenheit ist ohnehin längst wieder tief in den Fugen des Gedächtnisses verschwunden. Es geht entlang an Wiesen und Felder, durch Wälder hindurch, auf Teerstraßen, Schotterwegen und Trampelpfaden, vorbei an Kapellen, Höfen und Weiden. Und immer im Gepäck: eine herrliche Ruhe. Das ist das Besondere an einem eigenen Pilgerweg: Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist man der einzige Pilger, soweit das Auge reicht - wie die Mohnblume mitten im Weizenfeld.

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