Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Im Schilde geführt, Folge 8:Teuflische Nonne

Kirchseeon zeigt in seinem Wappen einen kleinen Schädling, der dem Ort einst zu großem Wirtschaftswachstum verhalf

Von Andreas Junkmann, Kirchseeon

Die schwere Steinkugel dreht sich langsam im Kreis. Das Wasser, das aus einer Öffnung an der Oberseite sprudelt, rinnt plätschernd daran herunter, ehe es auf einen stattlichen Felsbrocken tropft und schließlich in einer Rinne am Boden versickert. Um den Kirchseeoner Kugelbrunnen herum sitzt eine Handvoll Menschen im Schatten aufgespannter Sonnenschirme. Kaffeetassen klirren, Gabeln klappern und die einzelnen Gesprächsfetzen vermischen sich zu einem homogenen Kauderwelsch. Wer an diesem lauen Sommerabend am Eiscafé an der Münchner Straße vorbeischlendert, der möchte kaum glauben, dass genau hier die Ortsgeschichte der Marktgemeinde so richtig Fahrt aufgenommen hat. Damals, ebenfalls im Sommer, vor 130 Jahren.

Zunächst aber ein kleiner Schwenk zu dem Thema, um das es hier eigentlich gehen soll: das Gemeindewappen von Kirchseeon. Das nämlich ist durchaus ungewöhnlich. Denkt man an die klassischen Wappentiere, dann kommen einem eher imposante Geschöpfe wie Löwe, Adler oder Bär in den Sinn. Seltener dagegen dürfte es sein, dass eine Gemeinde ihr offizielles Emblem mit einem kleinen, gefräßigen Schädling schmückt. In Kirchseeon ist aber genau das der Fall. Auf dem Wappen schwingt sich vor grünem Hintergrund zwischen zwei Nadelbäumen ein sogenannter Nonnenfalter in die Luft.

Im Gegensatz zu vielen seiner Artgenossen wird dieser Schmetterling wohl so schnell keinen Schönheitspreis gewinnen. Mit seinem beigen Grundton und den schwarzen Punkten und Bändern auf den Flügeln kommt er doch eher unansehnlich daher. Sogar zu einem handfesten Problem aber können die Raupen der Nonnenfalter werden. Ein Weibchen kann bis zu 300 Eier legen - und der frisch geschlüpfte Nachwuchs bringt einen mächtigen Hunger mit auf die Welt. Zum Speiseplan gehören vor allem Fichten- und Kiefernnadeln, was dazu führt, dass die vom Nonnenfalter befallen Bäume nach und nach absterben. Das bekommen dann auch die Waldbauern zu spüren, die dem Schmetterling deshalb sogar mit der chemischen Keule zu Leibe rücken müssen.

Warum in aller Welt hat man sich also in Kirchseeon gerade so ein Tier für das Wappen ausgesucht? Anruf bei Dagmar Kramer, Vorsitzende des Vereins für Heimatkunde. Auf das Emblem angesprochen, fängt die Chronistin und Archivarin der Marktgemeinde ohne Zögern an zu erzählen. Die Geschichte von Kirchseeon sei eng mit dem ehemaligen Schwellenwerk und der Bahnstation verbunden. "Eigentlich müsste das beides im Wappen abgebildet sein", sagt Kramer. Ist es aber nicht.

Warum es doch der Nonnenfalter wurde, liegt der Historikerin zufolge daran, dass erst durch die Tiere so richtig Leben im Ort eingekehrt ist. Es war das Jahr 1889, als der Schädling über weite Teile des Ebersberger Forsts herfiel und eine Schneise der Verwüstung hinterließ. "Die Tiere sind damals von Osten nach Westen gezogen", erklärt Kramer. Und der Wald war auf der Reise der Falter ein gefundenes Fressen, bestand er zu der Zeit doch überwiegend aus Fichten. Etwa 36 Quadratkilometer und damit mehr als die Hälfte der Gesamtfläche wurden bei der Naturkatastrophe vernichtet.

Doch so schlimm der Schaden auch war, das damals etwa 150 Einwohner kleine Dorf Kirchseeon hat davon enorm profitiert. Für den Bau der Bahnstrecke München-Rosenheim war dort bereits 30 Jahre zuvor ein Schwellenwerk errichtet worden. Genau dorthin wurde nun das vom Schädling befalle Holz abtransportiert und zu Eisenbahnschwellen weiterverarbeitet. Das Ganze musste selbstredend so schnell wie möglich passieren, um die weitere Ausbreitung des Nonnenfalters zu verhindern - darum waren besonders viele starke Hände nötig.

Innerhalb kurzer Zeit kamen also laut Dagmar Kramer bis zu 4000 Hilfskräfte für die Aufräumarbeiten nach Kirchseeon und verhalfen dem damals beschaulichen Ort zu einem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung. Dort, wo heute die Kirchseeoner ihren Kaffee trinken und ihr Eis essen, entstand eine Arbeitersiedlung. Das Schwellenwerk florierte. "Dieser Aufschwung ist im Wappen durch den Falter dargestellt", erklärt Kramer.

Heute ist von dem ehemaligen Wirtschaftsmotor der Marktgemeinde nicht mehr viel übrig. Die Deutsche Bahn hat das Werk auf der südlichen Seite der Zugtrasse 1958 dicht gemacht. Nachdem ein Automobilkonzern auf dem Gelände noch einige Zeit ein Auslieferungslager betrieben hatte, liegt es nun wegen kontaminierten Erdreichs seit fast 40 Jahren brach. Die Betriebshalle und der angrenzende Wasserturm stehen unter Denkmalschutz.

Doch was ist eigentlich mit dem Nonnenfalter passiert? Dessen dramatischer Beutezug fand vor 130 Jahren ein jähes Ende, nachdem viele Raupen von einer Krankheit dahingerafft worden waren. Zwar sind die Tiere auch heute noch in Kirchseeon allgegenwärtig, allerdings vorwiegend als Figuren, Malereien - und eben im Gemeindewappen.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2019
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