SZ-Serie: Im Schilde geführt, Folge 17:Geschichte für Auge und Ohr

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Seit Jahrhunderten ist Vaterstetten sehr verkehrsgünstig gelegen, mehrere wichtige Handelsrouten verliefen hier. Das ist auch der Grund für das Aussehen des Gemeindewappens, das heuer seinen 50. Geburtstag gefeiert hat

Von Wieland Bögel

Kann man ein Wappen eigentlich auch hören? Natürlich nicht, außer man ist in der Großgemeinde. Denn die Vaterstettener Nächte sind, jedenfalls wenn es ansonsten ganz still ist, fast immer von einem ganz leisen Rauschen erfüllt. Den Ursprung hat das Geräusch ganz im Westen der Gemeinde, wo die viel befahrene Autobahn 99 verläuft und von wo in der Schotterebene auch meist der Wind bläst, der das Geräusch der mobilen Geschäftigkeit weit nach Vaterstetten hineinträgt. Mobilität ist es auch, der die Gemeinde ihr Wappen verdankt - und vielleicht sogar noch etwas mehr.

Zunächst zum Wappen: "Wellenförmig schräglinks geteilt von Silber und Blau; oben ein grünes Seeblatt mit grünem Stiel, unten ein goldener Pfahl", so die offizielle Definition, nachzulesen auf der Wappenseite des Hauses der Bayerischen Geschichte. Weiter ist zu erfahren, "der Pfahl symbolisiert die Altstraßen, an denen der Gemeindeteil Neufarn liegt". Dessen Name natürlich nichts mit einem urzeitlichen Gewächs zu tun hat, vielmehr sei "der Ortsname als Straßenkreuzung zu deuten". Tatsächlich könnte "Farn" demselben althochdeutschen Wortstamm entsprungen sein, der etwa dem Verb "fahren" oder dem Substantiv "Fährte" zugrunde liegt - und ursprünglich eine sehr ähnliche Bedeutung hatte: eben Weg, Spur, Straße, Strecke und so weiter. Neu wäre demnach nicht im Sinne "erst kurze Zeit vorhanden", sondern eher als "anders" zu deuten, wie es heute ja auch noch heißt, man gehe "neue Wege". Neufarn wäre demnach der Ort gewesen, an dem man den Weg oder im übertragenen Sinne die Richtung wechseln kann.

Der achteckige Turm der Kirche St. Bartholomäus in Weißenfeld ruht auf einem wuchtigen Unterbau, der wohl von einer alten Burganlage herrührt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Welche dabei zur Auswahl stehen, weiß Georg Reitsberger, Bürgermeister von Vaterstetten und profunder Kenner der Geschichte seiner Gemeinde. Gleich drei wichtige Straßen habe es schon immer auf dem Gebiet des heutigen Vaterstetten gegeben. Die obere und die untere Wiener Route, die beide ungefähr in Ost-West-Richtung verlaufen und eine - angeblich auf ein römisches Straßenbauprojekt zurückgehende - Verbindung jener beiden, deren nördliche Kreuzung eben in Neufarn liegt.

Wie wichtig besonders die nördliche Straße bis in jüngere Zeit war, zeigt sich an einem eigentlich eher unscheinbaren Gebäude an der höchsten Stelle des sogenannten "Neufarner Berges". Dort steht das "Wasenmeisterhaus", wo bis ins frühe 20. Jahrhundert der Straßenmeister lebte, der für die Instandhaltung des Streckenabschnitts rund um Neufarn zuständig war. Etwas Aufregung um das den meisten Bewohnern wohl nicht nur Vaterstettens, sondern auch Neufarns unbekannte kleine Häuschen, gab es vor fünf Jahren. Da war es plötzlich weg, bei Renovierungsarbeiten wurde es nahezu vollständig abgerissen. Was beinahe dazu geführt hätte, dass es ganz verschwindet, denn nach heutigem Baurecht ist das 1907 entstandene Häuschen im Außenbereich nicht genehmigungsfähig.

Bewacht wurde die Straße nach München, die von Wien über Neufarn führte. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Eigentümerin versicherte, der Teilabriss sei eine Eigenmächtigkeit ihres Architekten gewesen und versprach, das Haus nach den Plänen von 1907 originalgetreu wieder aufbauen zu lassen. Trotzdem dauerte es fast zwei Jahre, bis über einen Umweg durch den Petitionsausschuss des Landtages ein geduldeter Wiederaufbau möglich war. Heute erinnert wenig an das zeitweilige Verschwinden des Wasenmeisterhäuschens. Kennern der Örtlichkeit, die lang nicht mehr dort waren, fällt höchstens vielleicht die Tatsache auf, dass das Haus gepflegter aussieht.

Dass der Neufarner Berg eine bedeutende Wegmarke war, kann man auch aus der Tatsache ableiten, dass es für ihn eine eigene Gespenstergeschichte gibt: die Legende von den Feuermännlein. Diese, so weiß es Reitsberger zu berichten, waren der Überlieferung nach eine Art freundliche Kobolde - die allerdings so manchen Fuhrmann in Angst und Schrecken versetzten. Denn fuhr dieser seine Kursche bergan, sprangen sie auf den Bock, übernahmen die Zügel, knallten mit der Peitsche und brachten das Gespann sicher über den Berg. Über die Ursprünge der Legende von den feurigen Männlein ist wenig bekannt, vermutlich gibt es aber einen Zusammenhang mit einer anderen Nutzung des Neufarner Berges: Hier soll früher ein Galgen gestanden haben.

In Neufahrn steht die Rekonstruktion des Wasenmeisterhauses, im Original lebte dort bis ins frühe 20. Jahrhundert der Straßenmeister. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Gesellig statt gruselig geht es dann eine Ortschaft weiter zu, in Parsdorf wo sich seit gut 500 Jahren die Posthalterei befand. Dort konnten sich die Reisenden stärken und ausruhen, die Fuhrwerke wurden mit frischen Pferden bespannt. Letztere kehren dort heute zwar nicht mehr ein, stärken kann man sich am historischen Ort aber weiterhin: Die Alte Post geht in Teilen auf das Gebäude der historischen Posthalterei zurück. Diese ist für die Gemeindegeschichte von nicht unwesentlicher Bedeutung, denn als die Gemeinde, die heute Vaterstetten heißt, am 26. Juni 1818 offiziell gegründet wurde, bestimmte man als Sitz der Verwaltung Parsdorf, eben weil es dort die Posthalterei gab. Bis zur Gebietsreform 1977 blieb es beim Namen Parsdorf, auch wenn die Verwaltung bereits zehn Jahre zuvor nach Vaterstetten ins neue Rathaus umgezogen war.

Der Gemeindegeburtstag im vergangenen Jahr wurde dann aber wieder in der Alten Post gefeiert - wonach es einige Zeit zuvor noch gar nicht ausgesehen hatte, denn fast wäre die Post sogar abgerissen worden. Nachdem 2014 zunächst der Pächter gekündigt hatte, wurden schwere Bau- und Brandschutzmängel bekannt. Ein Weiterbetrieb schien schwierig, wenn nicht unmöglich zu sein. Die Kuratie Neufarn als Besitzerin des Gebäudes untersuchte diverse Optionen, was mit dem Gebäude und dem Grundstück passieren soll - inklusive Abbruch der Post und dem Bau von Wohnhäusern. 2016 schließlich kaufte die Gemeinde Vaterstetten das Gebäude, woran Bürgermeister Reitsberger einen nicht unerheblichen Anteil hatte. Ein Jahr darauf wurde es an Karl Müller, alteingesessener Parsdorfer, langjähriger Gemeinderat und Kirchenpfleger weiterverkauft. Einen Gewinn habe die Gemeinde dabei nicht gemacht, aber die Auflage, dass in der Post für mindestens die nächsten 25 Jahre eine Wirtschaft betrieben werden muss. Was seit 2018 auch wieder der Fall ist, zehn Tage vor dem 200. Gemeindegeburtstag wurde die Alte Post nach aufwendiger Renovierung wiedereröffnet.

(Foto: oh)

Ein weiteres historisches Gebäude an der alten Salzstraße nach München ist indes schon vor Jahrhunderten verschwunden - wenn auch nicht komplett. Wieder eine Ortschaft weiter, in Weißenfeld, fällt dem aufmerksamen Betrachter ein etwas zu groß geratener Kirchturm auf. Das dazugehörige Gotteshaus wirkt irgendwie ein oder zwei Nummern zu klein. Laut Reitsberger rührt die Größe des Turms daher, dass er auf dem Fundament eines mittelalterlichen Wachturms des damaligen Reichsgutes Weißenfeld steht. Tatsächlich, so ist es auch in einer Publikation der Kuratie Neufarn nachzulesen, "wurde hier ein Fundament erbaut, das auch aus statischen Gründen nie notwendig gewesen ist" - jedenfalls nicht für den heutigen Turm, dessen Vorgängerbau wohl noch etwas wuchtiger ausgefallen ist.

Zudem ist das Fundament - der Ur-Turm - viereckig, der Kirchturm jedoch achteckig, was noch heute zu sehen ist. Wann der Vorgängerbau verschwand, ist nicht überliefert, für 1315 ist erstmals eine Filialkirche der Pfarrei Ottendichl in Weißenfeld überliefert, nicht jedoch, ob da der alte Turm noch stand. Sicher ist, dass es ihn spätestens 1483 nicht mehr gab, denn für dieses Jahr ist der Bau eines achteckigen Kirchturms in gotischem Stil überliefert. Wie Reitsberger weiß, gibt es unter der Kirche noch unterirdische Räume inklusive eines alten Brunnens - mögliche Hinweise auf eine Festungsanlage. Leider sei dieses alte Burg-Untergeschoss heutzutage nicht mehr zugänglich.

Schwer zugänglich ist auch der zweite Teil des Vaterstettener Wappens, das sogenannte Seeblatt. Warum man es aufgenommen hat, ist noch relativ leicht zu erklären: Das Kloster Tegernsee, eine Abtei der Benediktiner, hatte im zwölften Jahrhundert Besitzungen in Vaterstetten, unter anderem den Vorgänger der heutigen Kirche an der Dorfstraße. Und im Wappen des Klosters - das im Wesentlichen jenem der Stadt Tegernsee entspricht - sind tatsächlich ähnliche Blätter abgebildet. Nur: Was sind eigentlich Seeblätter? Laut Reitsberger, als Landwirtschaftsmeister und langjähriger Vorsitzender des Gartenbauvereins mit der hiesigen Flora sehr gut vertraut, entsprächen sie "keiner Pflanze, die man kennt". Denn ein See rosen-Blatt sei es definitiv nicht, eher erinnere es an das Blatt einer Linde.

Leider sei auch die Entstehungsgeschichte des Wappens ein wenig vage, sagt der Bürgermeister, sicher ist nur, dass es am 13. März des Jahres 1969 offiziell in Dienst gestellt wurde. Zuvor habe die Gemeinde Parsdorf kein eigenes Wappen gehabt, weiß Reitsberger. Laut den noch im Rathaus vorhandenen Unterlagen beauftragte man den Heraldiker Heinz Bessling, ein Wappen "nach Maßgabe der Fachbehörde" zu erstellen. Mit dem Fall befasst war der damalige Zweite Bürgermeister Philipp Maas, den man aber nicht mehr fragen kann, da er vor 18 Jahren verstorben ist. Die "Maßgabe" zumindest ist bekannt, demnach muss ein neues Wappen entweder an ein vorhandenes anknüpfen - etwa wenn es am Ort ein Kloster, einen Adelssitz oder ähnliche wappenführenden Einrichtungen gab - oder sich anderweitig aus der Lokalgeschichte herleiten. Beides ist in Vaterstetten, damals Parsdorf, der Fall: das mysteriöse Seeblatt des Klosters Tegernsee und die historischen Straßen, die durch die Gemeinde verlaufen.

Von denen zwar nur die nördliche Wiener Route dem Vaterstettener Gemeindegebiet bauliche Zeitzeugen beschert hat - Spuren hat dagegen auch ihr südliches Pendant hinterlassen: akustische. Denn, wie Reitsberger sagt, habe man zu Parsdorfer Zeiten hören können, ob jemand aus dem Norden oder Süden der Gemeinde stammt. Denn entlang der beiden Routen hätten sich dialektische Einfärbungen verbreitet: Wer an der Route nach Passau lebte, dessen Sprache klang ein wenig nach Niederbayern, wer an der südlichen Route lebte, hatte so manches aus dem Salzburger Dialekt aufgeschnappt. So konnte man also das Vaterstettener Wappen bereits hören, noch bevor irgendwer daran dachte, ein solches erstellen zu lassen.

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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