Süddeutsche Zeitung

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 20:Singend geht's oft besser

Julia Rettenberger über die Versorgung von Demenzkranken

Protokoll: Johanna Feckl

Manchmal kommt es vor, dass ich während meiner Arbeit ein Lied anstimme. Kein Geburtstagsständchen für die Kollegin. Auch nicht den Ohrwurm, der mir seit Tagen im Kopf hängt. Es sind alte deutsche Volkslieder. Leider kenne ich davon nicht viele, aber ich bin froh, dass ich zumindest "Die Gedanken sind frei" beherrsche. Schon einige Male hat mir das Lied geholfen, Situationen wieder in den Griff zu bekommen, die gerade eben noch beinahe hoffnungslos erschienen sind: Dann, wenn ich einen Patienten mit einer schweren Demenz versorge und dieser mit seiner Umgebung und der gegenwärtigen Lage überhaupt nicht mehr zurecht kommt. Sobald ich die ersten Worte gesungen habe, stimmen meine Patienten in der Regel ein - und beruhigen sich wieder.

Menschen, die an einer Demenz leiden, gehören einem Klientel an Patienten an, das besonders viel Zeit und Ruhe von uns Pflegekräften erfordert. Das grundsätzliche Problem: Sie sind fort von ihrer gewohnten Umgebung, in der sie sich auskennen, sich wohl fühlen - in der sie zu Hause sind. Das trifft zwar genau genommen auf jeden Patienten zu. Aber bei demenziellen führt es dazu, dass sie noch verwirrter werden, als sie es ohnehin schon sind. Auf einmal laufen da lauter fremde Menschen in Blau und mit Masken umher, überall sind Stimmen und diverse Alarme zu hören, es geht um Themen, die sie nicht verstehen.

Vor allem unsere Masken stellen ein großes Problem für Demenzkranke dar. Sie verstehen zwar oft nicht mehr, was gesagt wird, aber die Mimik ihres Gegenübers können sie eigentlich immer noch richtig erfassen. Durch den nun sozusagen fehlenden, beim Sprechen sich bewegende Mund registrieren die Betroffenen in einigen Fällen jedoch gar nicht mehr, dass man überhaupt mit ihnen kommuniziert. Das erschwert es ungemein, ihnen zu erklären, weshalb sie zum Beispiel Schmerzen an der Hüfte haben - dass sie gestürzt sind und deshalb soeben eine Hüft-OP hinter sich gebracht haben, ist längst vergessen. Aber wir versuchen es natürlich trotzdem. Immer wieder.

Auf einer Intensivstation, wo so viele schwer kranke Menschen behandelt werden, ist es oft schwer, diesen besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden. Der Demente ist oft nicht der kränkste, erfordert aber trotzdem extrem viel Zeit von uns Pflegekräften. Ansonsten beginnt er im schlimmsten Falle, sich selbstgefährdend zu verhalten.

In der Regel versorgen wir mindestens einen Demenzkranken auf der Intensivstation - und es werden wohl mehr: Laut WHO dürften bis zum Jahr 2030 weltweit etwa 40 Prozent mehr Menschen mit Demenz leben als heute. Im Umgang mit ihnen ist es wichtig, dass wir immer wieder Punkte aus ihrem Langzeitgedächtnis aufgreifen: In welchem Beruf haben Sie gearbeitet? Haben Sie Kinder? Oder wir singen eben gemeinsam "Die Gedanken sind frei". Meistens sorgt das dafür, dass sich die Dementen dann wohler fühlen. Übrigens: Am 21. September ist Welt-Alzheimertag.

Julia Rettenberger ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 27-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte finden Sie unter sueddeutsche.de/thema/Auf_Station.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2021
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