Es ist nicht einfach für Sebastian K., vom schlimmsten Tag seines Lebens zu erzählen. Er braucht Anlaufzeit, er muss sich sammeln, das ist sichtbar und spürbar. Er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Immer wieder holt der 35-Jährige – der in Wirklichkeit anders heißt –, weit aus, versucht, chronologisch zu berichten, setzt wieder ab, macht einen Schlenker zurück in die Vergangenheit, um zu erklären, um einzuordnen. Als ob er sich immer noch darüber klar werden müsste, was geschehen ist, warum es geschehen ist.
Es, das ist der Augenblick, in dem sein Vater in den Keller ging, eine Pistole aus dem vorschriftsmäßig gesicherten Waffensafe mit den 22 Lang- und Kurzwaffen holte und sich erschoss. Es ist auch die Art, wie die Kriminalpolizei den Sohn, damals 25, mit dem Geschehenen konfrontierte und alleine ließ. Keine psychologische Unterstützung, kein Kriseninterventionsteam, die Verwandten überfordert, die Stiefmutter ohne Interesse für den Stiefsohn. Ohnehin, das ist nicht zu überhören, macht er sie verantwortlich für vieles. Auf jeden Fall für die schleichende Entfremdung von Vater und Sohn und mindestens für einen Teil der vielen Schulden, die den Vater, einen erfolgreichen Arzt, wohl letztendlich in den Selbstmord getrieben haben an einem Vormittag im September, zehn Jahre ist das her.
Die Einsamkeit umgibt den hageren und auf eine seltsame Art wie ein Jugendlicher wirkenden Mann wie eine unsichtbare Hülle. Und dabei war das in seiner Jugend wohl ganz anders. „Sehr behütet“ sei er aufgewachsen, erzählt er, in Niederbayern, „bürgerlich-konservativ“ das Familienleben. Die Mutter, eine Krankenschwester habe seinem Vater jeden Abend die Kleidung rausgelegt, mit der er zur Arbeit ging. Einzelheiten, die Sebastian K. wichtig sind. Er erzählt von den Mickey-Mouse-Heftchen, die er sich regelmäßig im nächsten Ort gekauft hat, kein Problem sei es damals gewesen für einen Buben, mit dem Fahrrad dort hinzu radeln. Er verbindet diese Zeit mit einem Gefühl der Sicherheit, der Harmonie: Das Zuhause, die Treffen mit anderen Jugendlichen an der Isar, auch die Schule – keine größeren Probleme.
Und er hatte Pläne für sein Leben: Realschulabschluss, Lehre und dann eine weitere Ausbildung, Fachabitur, vielleicht auch das allgemeine Abitur nach drei Jahren, Ingenieur wäre er gern geworden. Einen ersten Knacks erhielt die Idylle, als seine Mutter die Familie verließ, da war Sebastian K. 16. Um diese Zeit, in der Pubertät, entwickelte er eine vielfältige Lebensmittelunverträglichkeit, die ihn in seinen ersten Jahren im Beruf schwer beeinträchtigen sollte.

SZ Gute Werke:„Mir war nicht klar, wie krank ich bin“
Schon lange ist Bojan K. psychisch schwer krank. Sein Studium konnte der 30-Jährige nicht beenden, auch zu arbeiten ist ihm nicht möglich. Trotzdem bekommt er seit Monaten kein Geld, weil sich Jobcenter und Bezirk nicht einig werden, ob er arbeitsfähig ist oder nicht.
Zunächst aber galt es, „das gemeinsame Vater-Sohn-Ding“ zu wuppen. „Wir haben alles miteinander gemacht, waren joggen an der Isar, gemeinsam im Schützenverein“ – der Vater liebte Waffen schon immer. „Wir haben sogar einen Kochkurs zusammen gemacht.“ Und es lief – zumindest aus Sicht des Sohnes – bis die Frau auftauchte, der wir hier den Namen Sabine geben wollen. Dass die Neue an ihren Vornamen ein künstliches „a“ statt des „e“ anhängte, das in ihrem Pass stand, war für den jungen Sebastian sinnfällig für ihre Art, den Vater, sein Haus, sein ganzes Leben zu verändern. Zum gemeinsamen Weihnachten forderte sie Anzug ein von Vater und Sohn, „Sabina“ habe ein Cocktailkleid getragen, im neuerdings weiß gefliesten Elternhaus an einer neuen langen Tafel. Die Empörung ist bei Sebastian K. immer noch zu spüren. „Es hat auf einmal alles vornehm sein müssen.“
Das alles zu beschreiben, ist ihm wichtig, weil es zu der Entwicklung gehört, die mit dem schrecklichen Tag endete, weil er es immer und immer wieder für sich selbst durchlebt. All das gehört zu dem Trauma, das ihn nicht loslässt. Das ausgetauschte Türschloss zu seinem Elternhaus gehört auch dazu. Unangekündigte Besuche des Sohnes nannte der Vater fortan eine Verletzung der Privatsphäre. Nach einem Missverständnis lud Sabina den Sohn ihres Partners für alle künftigen Weihnachtsfeste aus.
Um seinen Lebensinhalt zu finanzieren, machte er den Taxiführerschein
Auch mit dem beruflichen Werdegang klappte es für Sebastian K. nicht wie erhofft. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker hatte er sich auf den Rat eines Kollegen hin über eine Leiharbeitsfirma in einem BMW-Werk in der Region beworben und dort in der Produktion gearbeitet – körperlich anstrengende Fließbandarbeit, nichts, das ihm Spaß machte. Der Wechsel in einen anderen Teil des Werks sollte Besserung bringen, vielleicht ja eine Festanstellung, doch hier fand sein Weg bei der Firma ein frühzeitiges Ende. Als die Produktion heruntergefahren wurde, mussten diejenigen gehen, die zuletzt ins Werk geholt worden waren, auch Sebastian K.. Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, machte er dann den Taxiführerschein.
Von einem einzigen Telefongespräch mit dem Vater berichtet er noch, zu einem Treffen kam es nicht mehr. Mit dem Taxi sei er noch an der Praxis vorbeigefahren, habe aber keinen Parkplatz gefunden, „dann soll das halt so sein“, habe er gedacht. „Das wäre die letzte Chance gewesen, ihn noch einmal zu sehen.“
Es war, als hätte ihm jemand mit einem Gummihammer auf den Kopf geschlagen
Bei der Kriminalpolizei, wo er den Tod des Vaters bald darauf bestätigen musste, habe er realisiert, dass es wirklich geschehen war. „Das war der Moment, in dem auf einmal die ganze Welt anders geworden war, wie in einem Film, wenn eine Granate einschlägt und man nur noch den Tinnitus hört und den Herzschlag.“ Er beschreibt das Gefühl auch, als hätte ihm jemand mit einem Gummihammer auf den Kopf geschlagen, jenes Gefühl, mit dem er alleine blieb, auch als er die Spuren des Selbstmords im Keller des Elternhauses beseitigte.
Vom behüteten Leben ist für Sebastian K. nichts übrig geblieben, das Erbe habe er ausschlagen müssen, zu viele Schulden auf Praxis und Haus – dennoch erhalte er noch immer Mahnungen von Gläubigern seines Vaters. „Seit zehn Jahren geht das so, die lassen mich nicht vergessen.“
Nach der Beerdigung zog er zunächst zu seiner Mutter, nach einem Jahr bekam er einen Termin bei einem Psychologen, der ihm Medikamente verschrieb, die ihn benebelt hätten, aber nicht geholfen, erzählt er. Er habe sich mit Arbeit betäubt, 72 Stunden Taxifahren pro Woche. Dann bewarb er sich erfolgreich um eine Ausbildungsstelle bei einem Hufbeschlagschmied, kam nach München, fand auch eine Anschlussstelle, die ihn in den Kreis Ebersberg brachte, doch das Trauma bleibt präsent, er ist nicht leistungsfähig. Nun müsste er die Ausbildung an einer entsprechenden Schule beenden, um sich als Schmied selbständig machen zu dürfen, doch schon der Vorbereitungslehrgang kostet um die 3000 Euro.

SZ-Hilfswerk „Gute Werke“:Löcher stopfen
Der SZ-Adventskalender hat einen neuen Namen, am Zweck des Hilfswerks ändert sich aber nichts. Menschen in Not zu helfen, ihnen zu mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verhelfen und dort einzuspringen, wo das soziale Netz seine Schwachstellen hat.
Das Jobcenter hat seine Arbeitsunfähigkeit anerkannt, doch wenigstens einen Tag pro Woche würde er gern arbeiten. Dafür bräuchte er ebenso ein fahrbereites Auto wie für die Fahrten zu einem Pferdehof, wo er jobben könnte. Das Auto hat er zwar, ein „Rentnerauto“, extra sparsam, Steuer und Versicherung knapst er sich von dem wenigen Geld ab, das er vom Jobcenter bekommt, in der Hoffnung, irgendwann doch den Turnaround zu schaffen, wenn er sich die Mobilität bewahrt. „Hier draußen ist ein Auto der Dreh- und Angelpunkt“. Doch der TÜV ist abgelaufen, und das Auto bräuchte neue Reifen und Bremsen. „Ich gehe jetzt seit acht Monaten zu Fuß.“ Oder er nehme den Bus zur Tafel oder zu den Gesprächstreffen der Caritas, die ihm das Sozialamt vermittelt hat. Seine Mutter, die noch in der alten Heimat wohnt, habe er seit zwei Jahren nicht gesehen, erzählt Sebastian K.. „Ich bin schachmatt gesetzt.“
So können Sie Sebastian K. und anderen Menschen helfen:
Per Paypal oder per Lastschriftverfahren unter sz-gutewerke.de/spenden. Mit einer Überweisung an SZ Gute Werke e.V., HypoVereinsbank, IBAN DE 04 7002 0270 0000 0822 28, BIC HYVEDEMMXXX.
Spenden können Sie auch im SZ-Servicepunkt im Kaufhaus Ludwig Beck, Marienplatz 11, Eingang Dienerstraße, 1. Obergeschoss. Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr.
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