SZ-Adventskalender:Wenn Krankheit arm macht

Eine schwierige Kindheit, Misshandlung in der Ehe, ein Angriff: Sonja H. hat viel Leid erfahren. Ihr Sohn kam als extremes Frühchen zur Welt - heute ist er ihr ganzer Stolz

Von Daniela Gorgs, Ebersberg

Viele Menschen lassen sich bereits von kleinen Misserfolgen aus der Bahn werden. Andere überstehen selbst große Krisen. Die 52-jährige Sonja H. (Namen von der Redaktion geändert) hat von Kindheit an Leid erfahren. Doch niemals hat sie sich von widrigen Lebensumständen unterkriegen lassen. Resilienzforscher nennen Menschen wie Sonja H. Stehaufmännchen. Sie können kreativ und flexibel auf traumatische Erlebnisse reagieren, wenn andere hilflos sind. Sonja H. war verzweifelt, sie litt. Aber eine starke innere Widerstandskraft bewahrte sie davor, sich aus der Lebensbahn werfen zu lassen. Und diese Stärke entwickelte sie im Zusammenleben mit ihrem Sohn, einem "Extrem-Frühchen", wie sie erzählt.

600 Gramm wog das Kind bei der Geburt in der 25. Schwangerschaftswoche. Die Ärzte mussten lange um sein Leben kämpfen. Der Vater ertrug den Anblick seines winzigen Sohnes im Inkubator nicht. Er lehnte das Kind ab. Doch Sonja H. blieb bei ihrem Baby. Und verließ den damaligen Partner. "Das war die beste Entscheidung meines Lebens", sagt sie heute - zwölf Jahre später. Sonja H. steht in ihrer kleinen Küche und kocht Kaffee, während sie von ihrem Sohn erzählt, "einem sehr guten Schüler und hilfsbereiten Kind".

Frau mit Kinderwagen

Ihren kleinen Buben musste Sonja H. allein großziehen, erst fünf Monate nach der Geburt durfte sie ihn mit nach Hause nehmen. Viele Stunden verbrachten die beiden beim Logopäden, Ergotherapeuten und Krankengymnasten.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Wochenlang hatte sie ihren winzigen Buben auf der Kinderstation betreut, Ängste durchgestanden, als er eine Gehirnblutung erlitt und nach einem Leistenbruch operiert werden musste. Bevor sie nach knapp fünf Monaten mit ihrem Bündel nach Hause durfte, lernte sie in einem Reanimationskurs, wie sie ihr Kind wiederbelebt, falls die Atmung aussetzt. Zwei Mal trat dieser Fall ein - und Sonja H. holte ihr Kind ins Leben zurück. Nie kam sie zur Ruhe. Erst hatte sie ihr Ohr am Piepser des Überwachungsmonitors. Dann, als im Laufe der Jahre Entwicklungsverzögerungen sichtbar wurden, verbrachte sie die Nachmittage bei Logopäden, Ergotherapeuten und Krankengymnasten. Immer wieder erlitt ihr Sohn Lungenentzündungen.

Sehr ausführlich beschreibt sie die Situation ihres Sohnes, freut sich über den guten Verlauf und lobt ihn für seine Kämpfernatur. Bei ihrer eigenen Biografie fasst sie sich kurz. Nach und nach erfährt man, dass sie selbst bei "tollen Pflegeeltern" aufwuchs. Als sie elf Jahre alt, riss ihre leibliche Mutter sie jedoch aus der Pflegefamilie heraus und holte sie zu sich. Drei Jahre ertrug sie als heranwachsender Teenager die Launen ihrer völlig überforderten Mutter, schlief in der Küche neben dem Hund oder im Keller neben den Regalen. So lange, bis das Jugendamt der Mutter das Sorgerecht entzog und das Kind ins Heim brachte. Sonja H. fing eine Lehre an und brach diese ab, um Geld zu verdienen und auf eigenen Füßen zu stehen. Jahrelang jobbte sie in der Gastronomie, lernte einen Mann kennen, der sie misshandelte. Sie floh ins Frauenhaus, kämpfte sich wieder zurück in den Alltag.

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Der nächste Schicksalsschlag folgte, als sie als ehrenamtliche Hilfskraft im Einsatz war. Weil Ärzte, Pfleger und Therapeuten sie nach der Frühgeburt so sehr unterstützt hatten, wollte sie "etwas Menschliches zurückgeben" und entschied sich für ein Ehrenamt im Sozialdienst. Vor acht Jahren brach ihr ein Betrunkener den Arm. Als man ihr im Krankenhaus Monate später die stabilisierenden Nägel entfernte, brach der Arm unglücklich noch einmal. Wenn sie jetzt ihre Haare zu einem Zopf binden möchte, muss sie dies mit einer Hand erledigen. Den linken Arm kann sie nicht mehr hochheben und anwinkeln. Das Schlimme: Sie war von einem auf den anderen Tag arbeitsunfähig und fiel in eine Depression. Rückblickend sagt sie: "Es war eine sehr belastende Zeit."

Jutta Hommelsen, Beraterin im Zentralen Sozialdienst im Sozialamt Ebersberg, weiß, dass chronisches Kranksein psychische und finanzielle Belastungen mit sich bringt. Sie kennt den Spruch: "Krankheit macht arm, und Armut macht krank." Wer auf Sozialleistungen angewiesen sei, dem machten Mehrausgaben für Medikamente oder Therapien zu schaffen. Ein zusätzlicher Betrag für Leistungen, die die Krankenkasse nicht übernimmt, sei im Gesamtregelsatz nicht vorgesehen. Besonders prekär werde dies im Alter, wenn Menschen einen höheren Bedarf an medizinischer Hilfe benötigten.

Auch für Zahnersatz hat ein Krankenversicherter kaum etwas zu erwarten. Für eine Sozialhilfeempfängerin wie Sonja H. ist das nun ein sehr großes Problem. Weil sie sich jahrelang um ihren Sohn und nicht um sich selbst gekümmert hat und zudem unter einer Zahnarztphobie leidet, sind ihre Zähne nun sehr schlecht. Sie traut sich kaum unter Menschen. Wer am Existenzminimum lebt, verfügt über keinerlei Reserven, sagt die Ebersberger Sozialarbeiterin Jutta Hommelsen. "Jede Kleinigkeit wird zu einer Riesenherausforderung." Schon eine Brille sei finanziell nicht zu stemmen, von Zahnersatz ganz zu schweigen.

Der SZ-Adventskalender kümmert sich um viele Ausgaben, die die Betroffenen sich nicht leisten können und für die staatliche Leistungen eben nicht ausreichen. Vor allem aber stellt das Hilfswerk der Süddeutschen Zeitung sozialen Einrichtungen jedes Jahr einen gut gefüllten Fördertopf zur Verfügung, aus dem chronische Kranke kurzfristig, unbürokratisch und diskret Hilfe erfahren.

Sonja H. würde gerne wieder einmal herzhaft lachen und ihre Zähne zeigen. Sie möchte unbedingt wieder arbeiten und sich für andere einsetzen. Auch wenn so mancher ihrer Träume zerstört wurde, ans Aufgeben würde sie allein schon wegen ihres Kindes niemals denken. "In Selbstmitleid verfallen bringt nichts", sagt sie und lächelt zaghaft.

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