SZ-Adventskalender:Vom Glück im Unglück

Lesezeit: 4 min

Tumor, Herzfehler, Depressionen, Burn-out - das Leben von Andrea und Peter M. ist geprägt von schweren Krankheiten. Nun kommt noch die Frage dazu, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen

Von Johanna Feckl

Andrea M. hatte Glück. Der Hirntumor hat nur ihre beiden Sehnerven und die Schilddrüse zerstört. Ihr Gehirn hingegen ist heil geblieben, es hat keinen Schaden davon getragen. Jetzt sitzt die 52-Jährige am Küchentisch, gegenüber ihr Mann Peter M. Sie lacht. Ja, das sei wirklich Glück gewesen. Der Tisch ist gedeckt; Teller und Tassen, Kaffee und Kuchen. Andrea M. nimmt einen Schluck, dann sagt sie: "Aber unsere aktuelle Situation ist die Eskalation von allem." Das Lachen ist aus ihrem Gesicht verschwunden.

Die Eskalation bedeutet, dass die M.s, der richtige Name ist der Redaktion bekannt, zum ersten Mal in ihrem Leben nicht wissen, wie sie die kommende Miete bezahlen sollen. Es ist kein Geld mehr da. Im vorangegangenen Monat haben sie ihr Auto verkauft, weit unter Wert. Aber es hat gereicht, um sich einen billigen alten Wagen zu kaufen. Und die Miete zu zahlen. Ein paar Tage waren sie zu spät dran mit der Überweisung. Andrea M. steht die Scham ins Gesicht geschrieben, als sie das erzählt. Wieder spricht die 52-Jährige von Glück: Der Vermieter hatte sich bei den M.s nicht beschwert, eine Verwarnung oder Ähnliches wurde auch nicht ausgesprochen.

Wenn Andrea und Peter M. von ihrem Leben erzählen, davon, wie sie zu diesem Punkt, an dem sie die Miete nicht mehr bezahlen können, gelangt sind, dann taucht eine Frage auf: Wie schaffen es die beiden, denen so viel Unglück widerfahren ist, trotz allem das Glück nicht aus den Augen zu verlieren?

Es war um die Jahrtausendwende, als Andrea M.s Vater einen Schlaganfall erlitt, ihre Mutter kämpfte gegen Brustkrebs. Die 52-Jährige pflegte ihre Eltern und kümmerte sich um deren Geschäft - die Eltern waren selbständig. Zur selben Zeit begann ein Tumor in ihrem Kopf zu wachsen.

Trotz zahlloser Rückschläge, hat das Ehepaar Andrea und Peter M. nie die Hoffnung verloren. Nun stehen die beiden aber vor der nächsten Hürde, denn sie haben arge finanzielle Schwierigkeiten. Symbolfoto: Catherina Hess (Foto: N/A)

Andrea M. konnte immer schlechter sehen. Rapide schlechter. Sie ging von Arzt zu Arzt - niemand kam auf den Gedanken, dass ein Hirntumor auf die Sehnerven drückte, die Augen wurden deshalb nicht mehr so versorgt, wie sie es hätten werden müssen. Die Folge: grüner Star. Eine solche Augenkrankheit betrifft meist ältere Menschen. Andrea M. war Mitte 30. Es dauerte sieben Jahre, bis Ärzte den Hirntumor endlich diagnostizierten und ihn herausoperierten. Für ihre Augen war es da schon zu spät, denn im Gegensatz zum grauen Star ist der Schaden, den ein grüner Star anrichtet, inoperabel. Links ist der 52-Jährigen ein Prozent Sehkraft geblieben, rechts sind es sechs.

Als sie nach der Operation aus der Narkose aufwachte, war nicht nur der Tumor von Andrea M. verschwunden, ihr fehlten auch zwei ganze Jahre in ihrem Gedächtnis. Ihre beiden Kinder seien auf einmal so groß gewesen. An diesen Moment erinnert sie sich genau. Es sei irritierend gewesen. Sie hatte die Kinder so in Erinnerung, wie sie im Jahr 2005 waren. Es war aber 2007. Bis heute fehlen die zwei Jahre dazwischen in ihrer Erinnerung.

Während all dieser Jahre ging Peter M. arbeiten. Auf seinen Schultern lag die komplette finanzielle Last der vierköpfigen Familie - von dem Geschäft von Andrea M.s Eltern war irgendwann nur noch ein Schuldenberg übrig. Jeden Tag pendelte er eine Stunde mit dem Auto nach München, nach getaner Arbeit wieder eine Stunde zurück. Oft kam es vor, dass er gerade einen Schritt ins Haus getan hatte, als sein Diensthandy klingelte. Er hatte Bereitschaftsdienst. Also wieder zurück ins Auto, bis zu seiner Arbeitsstätte in München. "Ich habe irgendwann gezittert, wenn ich in die Arbeit bin." 2008 funktionierte es einfach nicht mehr. Peter M. hatte Burn-out. Als er Krankengeld erhielt, wurde ihm gekündigt. Gewehrt hat er sich dagegen nicht. Dazu habe ihm die Kraft gefehlt, sagt der 55-Jährige heute.

Noch bevor Peter M. die Reißleine in seinem Job zog, lag seine Frau erneut im Krankenhaus, drei Wochen nach ihrer Tumoroperation. Andrea M. nennt es einen glücklichen Zufall, dass sie mit Herzrhythmusstörungen in ein Krankenhaus kam und dort ein angeborener Herzfehler entdeckt wurde. "Bei den meisten kommen die Ärzte ja gar nicht darauf, dass sie einen Herzfehler haben", sagt sie. "Die fallen halt einfach irgendwann um und sind tot." 2013 legten Ärzte ihr einen Stent, 2018 bekam sie eine künstliche Herzklappe.

Arbeit fand die 52-Jährige seit ihrem Tumor immer nur für begrenzte Zeit. Früher arbeitete sie als Kundenbetreuerin in einem Naturkostladen. Sie hat Ausbildungen in den Bereichen Ernährung und Kinesiologie und ist Entspannungstrainerin. Aber das ist lange her. Nach ihrer Tumor-OP machte sie eine Umschulung zur Bürokauffrau. "Aber mit einer Sehbehinderung im Büro zu arbeiten, das ist schwierig", sagt sie. Das beginnt bei vermeintlichen Kleinigkeiten, wie sie erklärt: der Drucker, das Telefon, die Frankiermaschine - alles funktioniert digital. Ein Problem, wenn man sehbehindert ist. Hinzu kommen spezielle Computerprogramme, von denen sich viele am Bildschirm nicht vergrößern lassen.

Aufgeben kommt für Andrea M. aber nicht in Frage. Sie möchte arbeiten - auch wenn ihr Beamte in verschiedenen Ämtern empfohlen haben, sie solle doch einfach in Rente gehen.

Im Moment lebt das Ehepaar von Peter M.s Krankengeld. Nachdem er sich von seinem Burn-out 2008 erholt hatte, ging er wieder arbeiten. Bis 2018. Innerhalb kürzester Zeit verlor der 55-Jährige damals zwölf Kilo. Bei seinem damaligen Arbeitgeber gab es Umstrukturierungen, der Druck und die Belastung wurden mehr und mehr. Und obendrauf die ständige Sorge um seine Frau, die damals kurz vor ihrer zweiten Operation am Herzen stand. "Ich war einfach total am Hund", sagt Peter M. Bis er seine Frau von der Reha im Anschluss an ihre OP abholen konnte, hielt er noch durch. Am Tag darauf ging er zum Arzt.

Wegen seines starken Gewichtverlusts checkte der Arzt alles mögliche durch. Er habe sichergehen wollen, dass es keine physische Ursache gibt, erklärt der 55-Jährige. Dabei fand der Arzt Anzeichen für Lungenkrebs. Und dann war es erneut da, das Glück. Eine Lungenbiopsie ergab: Falscher Alarm, doch kein Krebs. Peter M. hatte nur eine schwere allergische Reaktion. Dass er so stark abgenommen hatte, war psychisch begründet. Er steckte mitten in einer Depression.

Im Frühling dieses Jahres schloss Peter M. seine Therapie ab. Ihm wurde eine spezielle Reha zur beruflichen Umorientierung nahe gelegt. Es dauerte, bis diese bewilligt war. Beginnen wird die Reha erst im Sommer 2020. Eine lange Zeit bis dahin. "Eigentlich war ich nach der Therapie gut aufgestellt", sagt der 55-Jährige. Durch die lange Wartezeit, das viele Nichtstunkönnen, habe er das Gefühl, sein Zustand habe sich wieder verschlechtert. Vielleicht auch, weil das Ehepaar im Dezember zum letzten Mal Krankengeld erhält. Die Ersparnisse aus besseren Zeiten sind aufgebraucht. Wie die beiden die anstehende Miete bezahlen sollen, wissen sie nicht. Andrea M. hofft auf einen neuen Job. Vielleicht klappt es mit einer ihrer Bewerbungen. Mit ein bisschen Glück.

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: