SZ-Adventskalender:Tief im Tunnel

Frauenhaus

Mit viel Kraft und Zeit schaffte die 62-Jährige es, ihre Erkrankung in den Griff zu bekommen - vollständig davon befreien konnte sie sich nicht.

(Foto: Peter Steffen/dpa)

Als Andrea M. an Morbus Sudeck erkrankt, kann sie in ihrem Beruf nicht mehr arbeiten. Einen neuen Job findet sie nicht, von ihrem Mann erntet sie dafür Vorwürfe. Die 62-Jährige bekommt schwerste Depressionen.

Von Johanna Feckl

Andrea M. (Name von der Reaktion geändert) fuhr in einen Tunnel ein. Es war ein langer Tunnel, ziemlich dunkel. Zunächst konnte sie noch etwas Leuchtendes in der Mitte erkennen, es sah wie ein Kerzenlicht aus. So beschreibt es die 62-Jährige heute. Irgendwann begann das Licht zu flackern. Der Tunnel, der M. vereinnahmte, sie immer weiter und enger umschlang, war eine schwere Depression. Mit viel Kraft und Zeit schaffte sie es, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen - vollständig davon befreien konnte sie sich nicht.

In Sichtweite kam der Tunnel, als sich Andrea M. das Handgelenk brach. Eigentlich ist der Bruch gut verheilt. Das sagten zumindest die Röntgenbilder. Aber M. hatte trotzdem Schmerzen. Es wurde einfach nicht besser. 2008 wurde sie dann operiert. Die Schmerzen blieben dennoch. Nicht nur in der Region des Handgelenks, sondern bald schon kletterte der Schmerz immer weiter den Arm hinauf, bis zum Ellbogen. Die Beschwerden wurden so stark, dass die 62-jährige Frau ihre Hand und ihren Arm nicht einmal mehr auf dem Tisch ablegen konnte. "Sogar wenn eine Wolldecke darunter lag - es ging einfach überhaupt nichts mehr", erzählt sie. M. suchte wieder ihren Arzt auf. Dieses Mal ging sie mit einer Diagnose nach Hause: Morbus Sudeck.

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Die Krankheit Morbus Sudeck, benannt nach ihrem Entdecker, dem deutschen Chirurgen Paul Sudeck, ist auch unter dem Namen "komplexes regionales Schmerzsyndrom" bekannt. Sie tritt nach einer Verletzung auf. Wie und warum genau es zu einer Morbus-Sudeck-Erkrankung kommt, ist bislang nicht abschließend geklärt. Fest steht: Es ist eine seltene Krankheit. Nach einer Verletzung tritt sie in etwa zwei bis fünf Prozent der Fälle auf. Wird sie erst spät entdeckt, schlagen Therapiemöglichkeiten meistens nur noch bedingt an, und die Schmerzen werden chronisch. Wie bei Andrea M.

Früher arbeitete die 62-Jährige im Lager eines Großhandels. 2009 kam der Zeitpunkt, ab dem das nicht mehr ging. Trotz mehrerer Rehas verschlimmerte sich ihre Krankheit so sehr, dass sie bald kein Blatt Papier mehr greifen konnte. Arbeiten im Lager war unmöglich geworden. Sie begann, sich für andere Jobs umzusehen, schrieb Bewerbungen. Erfolglos. Damals war sie noch verheiratet. Anstatt sie zu unterstützen und ihr während dieser schweren Zeit beizustehen, machte ihr Ex-Mann M. Vorwürfe. Sie sei faul. Sie würde leicht eine neue Arbeit finden. Sie wolle nur nicht. "Das hat mich immer weiter runtergezogen", erinnert sich M. "Alles ist komplett leer gewesen, als ob nur noch eine Hülle dagewesen wäre." Sie war schon mittendrin im Tunnel.

Wenn die 62-Jährige von dem Weg in ihre Depression erzählt, dann verändert sich etwas. Ihr Blick bleibt an der Tischkante vor ihr kleben. Ihre Stimme wird leiser. An manchen Stellen gleicht sie mehr einem Flüstern. Oft unterbricht sie sich selbst, sucht nach Worten - ganz als ob keines den Ort angemessen beschreiben könnte, an dem sie sich damals befand.

Irgendwann war die 62-Jährige dann in einer Klinik. Damit sie aus der Dunkelheit wieder herausfindet. Eines ihrer Kinder sorgte dafür, dass der Ehemann sie nicht besuchen durfte und dass auch keine Telefonanrufe von ihm durchgestellt werden. Das und die umfassende Therapie, die M. in der Klinik bekam, halfen ihr. Sie schaffte es und reichte die Scheidung ein.

Nachdem sie einige Monate stationär behandelt wurde und sich mit ihrer psychischen Krankheit auseinandersetzte, zog sie in eine Wohngemeinschaft. Es war eine betreute Wohnform. Regelmäßig kamen Sozialpädagogen und andere Fachkräfte vorbei, um die 62-Jährige dabei zu unterstützen, wieder eine Stabilität in ihr Leben einkehren zu lassen.

Mittlerweile lebt M. in ihren eigenen vier Wänden. Das war ihr großer Traum. "Ich wollte so gerne wieder mein eigener Herr sein." Ihr Betreuer bestärkte sie in ihrem Wunsch - sie sei so weit. An den Augenblick, als es dann tatsächlich so weit war und sie die Zusage für ihre jetzige Wohnung bekam, erinnert sie sich noch genau: "Da war ich so happy, das war der Wahnsinn!" Die 62-Jährige lächelt und schüttelt sachte den Kopf.

Trotzdem: Gesund ist Andrea M. nicht. Durch die Morbus-Sudeck-Erkrankung kann sie einen Arm ab dem Ellbogen abwärts nicht bewegen. Es gibt Tage, an denen auch die Medikamente, die sie täglich nimmt, die Schmerzen nicht lindern können. Hinzukommt eine Durchblutungsstörung in den Beinen. 200 bis 300 Meter weit kann sie am Stück laufen, mehr geht nicht. Wenn sie über all das nachdenkt, und dann noch an ihre zerbrochene Ehe, "dann haut es mich manchmal runter, alles kommt wieder hoch und ich bin nur noch verzweifelt". Arbeiten kann die 62-Jährige nicht mehr. Sie lebt von einer Erwerbsunfähigkeitsrente und Grundsicherung, zwischen 150 und 200 Euro kann sie im Monat ausgeben.

Gerne würde sich M. einen Fuß-Trainer kaufen. "Das wäre für meine Durchblutungsstörung sehr hilfreich!" Oder einen kleinen Staubsauger. Im Moment leiht sie sich jedes Mal zum Saubermachen den von einer Bekannten aus. Und an ihrem Auto müssten auch einige Dinge erneuert werden - auf ihren Wagen ist die 62-jährige Frau angewiesen. Andernfalls wäre es ihr kaum möglich, überhaupt die Wohnung zu verlassen. Aber ihr Budget erlaubt nichts davon.

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