SZ-Adventskalender:Nach vorne schauen

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Krankheit, Armut, Gewalt - Charlotte F. hat viele Schicksalsschläge hinter sich, doch sie rappelt sich selbst immer wieder hoch. Auch wenn es mittlerweile zum Leben reicht, würde die 55-Jährige ihren Kindern gerne manchmal etwas gönnen.

Von Nicola Staender, Ebersberg

Charlotte F. (Name geändert) ist glücklich: Von Januar 2015 an hat sie einen festen Arbeitsvertrag. Die Sekretärin im Vorzimmer einer staatlichen Immobilienverwaltung schlägt alle Statistiken. Sie hat nie eine Ausbildung gemacht, sondern mehrere Jahre in unterschiedlichen Betrieben als Datenerfasserin oder Sekretärin gearbeitet und sich ihr Fachwissen dort angeeignet. Wenn es nötig war, hat sie geputzt, um zusätzlich Geld zu verdienen.

Vier Jahre war F. insgesamt arbeitslos, mehr als 360 Bewerbungen musste sie schreiben, bis sie zum Bewerbungsgespräch als Krankheitsvertretung bei der Immobilienverwaltung eingeladen wurde. Einen Tag vor dem Gespräch bekam sie eine Krebsdiagnose. "Ich dachte, das Gespräch hätte ich versaut", sagt sie. Doch sie bekam den Job. Jetzt, mit 55 Jahren, und nachdem ihr die Gebärmutter mitsamt den Krebszellen entnommen wurde, ist sie beruflich angekommen. "Ich schaue immer nach vorne", sagt sie so lapidar, dass einem beinahe der Mund offen stehen bleibt.

Gewalt in der Familie hat Charlotte F. oft erlebt, erst von ihren Eltern, später von ihrem Ehemann. (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Charlotte F. ist alleinerziehende Mutter. Sie hat zwei Kinder, ihre Tochter, 35, hat selber auch schon eine Tochter und einen Sohn. F.s Sohn ist 15 Jahre alt, beinahe so alt wie seine Cousine, 16. F. liebt ihre Kinder über alles: "Ich habe immer gesagt: Erst kommen sie, dann ich." Sie will immer für ihre Kinder da sein, weil sie selbst keine fürsorglichen Eltern hatte. F. ist in einem gewalttätigen Haushalt aufgewachsen, ihre Mutter hat sie oft geschlagen und verbal misshandelt. Sie hat von den Affären ihrer Eltern mitbekommen, schon als kleines Kind wurde ihr klar gemacht, dass sie nicht liebenswert sei. "Ich habe um die Anerkennung meines Vaters gebuhlt, sie aber nie bekommen."

Mit 19, da wohnte sie schon nicht mehr zu Hause, wurde sie vergewaltigt und wurde schwanger. "Ich habe nie daran gezweifelt, ob ich das Kind bekommen soll", sagt F. Als junge Mutter zog sie zurück zu ihrer Mutter, doch diese stellte ihr weitere Hürden in den Weg: Sie verbat F. das Waschen in ihrer Maschine und das Kochen in der Küche. "Ich habe mir meine eigene Kochplatte in mein Zimmer gestellt", sagt die 55-Jährige.

Da es so aber nicht weitergehen konnte, floh sie ins Münchner Mütterheim, holte sich dort Hilfe, bevor sie eine eigene Wohnung finden konnte. "Meine Tochter war sehr oft krank", erzählt F. Deshalb hätte sie auch eine Arbeitsstelle nach der nächsten verloren, schließlich war nur sie da, um sich um ihr Kind zu kümmern, musste immer in die Krippe fahren, wenn die Erzieher wieder anriefen. Schließlich fing sie bei den Münchner Stadtwerken als Datenerfasserin an und arbeitete sich bis ins gerichtliche Mahnwesen hoch.

"Meine Tochter hat immer gesehen, dass ich alles getan habe, was ich konnte", sagt F.. Die beiden haben ein sehr inniges Verhältnis. Jeden Morgen weckt F. sie per Telefon. F. steht schon um vier Uhr auf, weil sie den Haushalt macht, bevor sie um halb sechs aus dem östlichen Landkreis nach München zur Arbeit fährt. "Ich bin Frühaufsteherin", sagt sie. Und nach der Arbeit wird ihr der Haushalt zu viel.

Ihr zweites Kind bekam F., als sie 35 Jahre alt war. In der Türkei hatte sie einen Mann kennengelernt, den sie dort auch heiratete. Sie lebte mit ihrem Sohn in Deutschland und unternahm zwei Jahre lang alle Anstrengungen, damit ihr Mann ebenfalls nach Deutschland kommen konnte. Als ihr Sohn fünf Jahre alt war, durfte der Vater endlich bei ihnen sein.

Doch F.s Mann war in der langen Wartezeit zum Alkoholiker geworden. Er wurde oft ausfällig, trat seine Frau in die Rippen und bedrohte sie und den gemeinsamen Sohn mit einem Messer. F. floh zunächst mit ihrem Sohn zur Nachbarin, zog um, ließ ihre Adresse und ihre Telefonnummer sperren. Noch heute hat sie Rückenschmerzen von den Rippentritten, ihr Sohn trinkt heute keinen Alkohol und will auch nicht, dass sie welchen trinkt. "Ich habe mich vor drei Jahren in Abwesenheit scheiden lassen", sagt sie. "Und will jetzt auch nichts mehr von Männern wissen."

Manchmal, wenn der 55-Jährigen etwas zu viel wird, schaut sie aus ihrem Wohnzimmerfenster, von dem aus sie die Alpenkette sehen kann. Mehr brauche sie nicht, um zu entspannen, sagt sie. Sie lebt unter der Armutsgrenze, als Sekretärin verdient sie nur 100 Euro mehr, als sie Arbeitslosengeld bekommen hat. Trotzdem mag sie ihre Arbeit, vor allem die Kollegen, für die sie schon unentbehrlich geworden ist.

Als Dank schenkten sie ihr neulich bei der betrieblichen Weihnachtsfeier alle gemeinsam eine einstündige Massage, eine Geste, über die F. sehr gerührt ist. "Ich würde meinem Sohn gerne viel mehr gönnen", sagt sie über ihre finanzielle Situation. "Es geht aber nicht." Sie muss sich überwinden, Spenden annehmen zu können, denkt oft, dass es doch Menschen geben muss, die es dringender brauchen.

"Ich habe einen starken Selbsterhaltungstrieb", sagt Charlotte F.. Nach einem einstündigen Gespräch mit ihr glaubt man ihr es sofort. Trotz Mobbings bei alten Arbeitsstellen, trotz der Gewalt, die ihr angetan wurde, hat sie nicht die Fähigkeit verloren, für andere da zu sein, allen voran für ihre Kinder. Und das schönste Kompliment für sie ist, wenn diese Liebe zurück gegeben wird. "Mama, es ist so schön, dich mal wieder zu riechen", hätte ihre Tochter neulich gesagt, als sie sie umarmte.

© SZ vom 19.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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