Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Im System nicht vorgesehen

Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern fallen oft durchs soziale Netz - die Awo fängt sie auf

Karin Kampwerth

- "Ein behindertes Kind liebt man genauso wie ein gesundes Kind. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr", sagt Gisela B. "Nur tut es gut, einmal nicht rund um die Uhr Verantwortung zu tragen." Ihr Sohn Thomas ist als Schwerstpflegefall auf die Welt gekommen. Die Spastiken seiner Gliedmaßen zwingen seinen Körper in eine vollkommen verkrampfte Haltung, er kann nicht laufen, nicht sprechen und ist auf ständige Hilfe angewiesen. Doch er kann Freude fühlen, er lacht und fuchtelt mit den verdrehten Armen begeistert in seinem Rollstuhl herum, wenn er mit seinen Freunden von der Offenen Behindertenarbeit (Oba) etwas unternehmen darf. Die Einrichtung des Kreisverbandes der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Markt Schwaben unterstützt Eltern, deren Kinder mit einer Behinderung auf die Welt gekommen sind. "Das beginnt im Kleinkindalter mit einer Einzelbetreuung", erzählt Oba-Leiter Gerhard Schönauer. Je älter die Kinder werden, desto mehr stehen Gruppenangebote zur Verfügung. Schönauer ist es dabei wichtig, mit seinen Schützlingen immer wieder auch mitten in die Gesellschaft hineinzugehen. Zum Beispiel in den Ferien. "Da gehen wir in die Horte, die geöffnet haben", sagt er. Den Kindern mit und ohne Behinderung täten die Begegnungen gut und Schönauer würde sich Gleiches auch für die Eltern wünschen. "Mütter und Väter von behinderten Kindern geraten schnell in die Isolation", diese Beobachtung macht Schönauer immer wieder. Hinzu komme, dass die Welt nicht nur für die Behinderten voller Barrieren ist, sondern auch für deren Eltern. Zusätzlich zu der Sorge um die Lebensperspektiven ihrer Kinder kämen häufig finanzielle Probleme. Einerseits, weil Mütter und Väter ihre Berufstätigkeit reduzieren müssten, um die Pflege leisten zu können. Aber auch, weil sie unsägliche Kämpfe mit den Krankenkassen führen müssten, weil vorgezählt wird, wie viele Windeln sie verbrauchen dürfen, der Kinderarzt Medikamente nicht verschreiben kann, weil sie sein Budget sprengen oder die physiologische Anpassung eines Rollstuhles infrage gestellt wird. "Ein chronisch krankes Kind ist im System nicht vorgesehen", sagt Schönauer. Das gelte auch, wenn es längst erwachsen ist. So kann Schönauer sich an einen Fall erinnern, in dem ein junger Mann einen aufwendigen Rollstuhl benötigte, der es ihm ermöglicht, aufzustehen. "Es ist ganz banal, aber einfach nur, um zu pinkeln", sagt Schönauer. Die Kasse habe für den Rollstuhl aber nicht bezahlen wollen. Die Begründung: Die 60-jährige Mutter des jungen Mannes könne ihn für den Toilettengang aus dem Rollstuhl heben. "Das sind diskriminierende Auflagen", ärgert sich Schönauer.

In vielen Fällen entlastet die Offene Behindertenarbeit deshalb betroffene Familien nicht nur, indem sie den Eltern Zeit für sich oder die Geschwisterkinder schenkt, sondern auch in finanziellen Notlagen. Schönauer ist deshalb dankbar, auf Spenden des Adventskalenders für gute Werke der Süddeutschen Zeitung zurückgreifen zu können.

Damit sich die Einrichtung auch künftig in Notfällen über die eigenen Verhältnisse hinaus engagieren kann, stehen chronisch kranke und behinderte Kinder im Mittelpunkt der 64. Adventskalender-Aktion, für die SZ-Leser von diesem Wochenende an wieder um Spenden gebeten werden. Schon mit kleinen Beträgen könne oft große Hilfe geleistet werden, sagt Schönauer.

Meistens gewährt die Oba einen Zuschuss aus Spendengeldern, damit die behinderten Kinder an der jährlichen Ferienfreizeit teilnehmen könnten. Wie wichtig diese Verschnaufpause für die Eltern trotz aller Liebe zu ihrem Kind ist, erlebt Schönauer immer wieder. So sei es für ein Paar unglaublich schwer, das Leben mit einem Kind durchzustehen, dass einer Gesellschaft, die auf Leistung und Funktion getrimmt sei, nicht entspricht. "Und dann kommt am Anfang ja auch immer die Schuldfrage hinzu", sagt er. War es das Glas Wein zu viel, oder die eine Zigarette, die das Kind krank gemacht hat? Das Schicksal letztendlich anzunehmen, sei ein schwerer Weg. Zu einer Akzeptanz in der Welt der Nichtbehinderten führe es aber immer noch nur in den seltensten Fällen.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2012
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