Stiftung Attl in Wasserburg:Vielfalt vom Feinsten

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Mit "anders" veröffentlicht das "ABM-Orchester" ein Album, dessen Name sich durch alle Facetten hindurch zieht - von der inklusiven Band-Besetzung über Lyrics und musikalische Arrangements bis hin zum Booklet.

Von Johanna Feckl

Mitten im Corona-Winter ein neues Album zu veröffentlichen, ist vielen Musikern und Produktionsfirmen ein Dorn im Auge. Der Grund scheint einleuchtend: Promotion-Termine können gar nicht oder nur recht beschwerlich stattfinden, wann eine Tour zum Album möglich sein wird, ist ungewiss - dann doch lieber den Release verschieben. Diese Wahl haben etwa Pop-Größen wie Robbie Williams oder Lady Gaga getroffen, die beide 2020 eigentlich eine neue Platte auf den Markt bringen wollten. Das ABM-Orchester der Stiftung Attl im Kreis Rosenheim hat sich hingegen anders entschieden und ihr Album nun in diesem Dezember veröffentlicht - ganz getreu des Namens des Longplayers, das da "anders" heißt.

ABM, das ist das Akronym von "Attler Bunte Mischung". Die Stiftung Attl bietet seit mehr als 140 Jahren ein Zuhause für Menschen mit einer geistigen Behinderung: 1873 war das Gründungsjahr, die Verwaltung wurde damals an den Orden der Barmherzigen Brüder übergeben. Knapp 100 Jahre später ging die Verwaltung an die Caritas über, 1994 wurde ein Stiftungsrat und -vorstand zur Selbstverwaltung berufen, der bis heute die Geschicke lenkt. Das ABM-Orchester gibt es seit dem Jahr 2002, entstanden ist sie aus der damaligen Hausband der Stiftung Attl. Mittlerweile hat das Orchester um die 15 Mitglieder: Neun bis zehn Betreute und vier bis sechs Betreuer beziehungsweise Betreuerinnen.

Gut die Hälfte der Original-Besetzung ist immer noch dabei

"Unsere Größe schwankt von Auftritt zu Auftritt ein kleines bisschen", erklärt Ben Leinenbach. Dem 53-jährigen Wasserburger kommt so etwas wie die Orchester-Leitung zu; er ist der federführende Textschreiber und Komponist, nebenher kümmert er sich auf noch um den Vertrieb der Alben und macht Pressearbeit. In Attl arbeitet er seit 22 Jahren, als das Orchester gegründet wurde, war er dort Azubi.

Schon damals hatte das Orchester in etwa die Größe, die es auch heute besitzt: Rhythmusgruppe, ein Bläsersatz, ein Akkordeon, diverse Percussion-Instrumente sowie Lead- und Background-Gesang; zur Anfangszeit gab es auch noch einen Mundharmoniker. Ungefähr die Hälfte der Original-Besetzung spielt oder singt nach wie vor im Orchester. Was hingegen anders ist im Vergleich zu damals, das ist die Musik: Zu Beginn war das ABM-Orchester sozusagen eine große Coverband, auch viele englischsprachige Lieder wurden für Auftritte ausgewählt. Über die Jahre hinweg kam es, dass die Mitglieder die Texte ins Bairische übersetzten. "Englisch versteht einfach nicht jeder", erklärt Leinenbach. "Es wirkt sich einfach unglaublich positiv auf den Ausdruck des Gesangs aus, wenn man versteht, was man da überhaupt singt." 2012 sind Leinenbach und Co dann dazu übergegangen, eigene Songs zu texten und zu komponieren.

Drei Jahre haben die Arbeiten an ihrer vierten Veröffentlichung, dem "anders"-Album, unter der Leitung von Ben Leinenbach und Slavko Spionjak gedauert. Dass der Release wegen Corona auf unbestimmte Zeit verschoben wird, stand eigentlich nie so recht zur Debatte, wie Leinenbach sagt. "Wir wollten das Album auf alle Fälle vor Weihnachten rausbringen." Klar ist auch das Orchester von Corona betroffen, denn bei Live-Auftritten hätten sie jedes Mal einen guten Schwung ihrer CDs verkaufen können. Das fällt nun erst einmal weg. Aber es ist, wie es ist - und die Freude der Orchester-Mitglieder, als sie die fertige LP erhalten haben, sei auf alle Fälle eine Bestätigung dafür, dass der Zeitpunkt der Veröffentlichung der richtige war, so der 53-Jährige weiter.

Jedes Lied überzeugt durch einen anderen Sound

Beim Hören der insgesamt neun Songs der Platte trifft die Beschreibung "anders" den Kern des Albums ziemlich gut: Jedes Lied überzeugt durch einen anderen Sound - und doch wirkt das Gesamtpaket durch die Stringenz der Bläser absolut stimmig. Gleich zu Beginn findet sich mit "ABM-Orchester" ein Ohrwurm, dessen musikalischer Stil an klassischen Glam-Rock der 1970er-Jahren wie Slade oder David Bowie erinnert, nur eben mit bairischem und eingängigem Text. Beschwingt geht es zu in "I Ko Nimma Wart'n", wo Bläser und Akustik-Gitarre ganz klar im Vordergrund stehen. Und "Du Bist Wieda Do" kommt durch das dominante Akkordeon in moderner Volkslied-Manier daher. Es gibt aber auch leicht funkig angehauchte Songs wie "I Hob Di". Kurz: Es wird definitiv nicht langweilig beim Zuhören.

Neben den musikalischen Arrangements lohnt es sich aber auch, auf die Texte zu achten. Mit "I Mech, I Ko" hat es beispielsweise ein Song auf die Platte geschafft, dessen gesamter Text aus dem Wiederholen genau dieses Titels besteht - aber eben darum geht es ja: Wer will, der kann. Punkt. Kein "ja, aber", kein "ja, vielleicht". Es braucht nicht immer ausgefeilte dramaturgische Geschichten als Lyrics um ausgefeilt zu sein.

Erhältlich ist das Album auf allen herkömmlichen Streaming und Download-Portalen wie Spotify, iTunes-Store und Konsorten. Wer aber ein richtiges Schmankerl erwerben möchte, dem sei die klassische CD empfohlen. Das aufwendig gestaltete Cover-Bild der Wasserburger Grafik-Designerin und Künstlerin Anna Schöll ist ein echter Hingucker. Passend zum Album-Titel hat sie sich als Motiv für ein Tier entschieden, das je nach Situation anders aussieht: Ein Chamäleon. Und auch das Innenleben in Form des Booklets bereitet große Freude bei Durchblättern. Übrigens ist das haptische Album auch nicht im Gewand einer herkömmlichen Plastik-Hülle, sondern aus Pappe. Anders eben.

Das Album "anders" vom ABM-Orchester ist erhältlich als Stream oder Download auf allen herkömmlichen Online-Portalen und als CD Corona-bedingt aktuell nur im Webshop unter webshop.attl.de für 17 Euro.

© SZ vom 04.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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