SZ-Talentiade:Temporeicher Balanceakt

Der Radsportverein Steinhöring feiert seit Jahrzehnten große sportliche Erfolge. Das Erfolgsrezept: "Jeder muss jedem helfen", sagt Trainerin Irmtraud Wirth.

Von Michael Haas, Steinhöring

"Hopp!" - Ein Ruf schallt durch die Halle. Noch einmal erklingt die helle Stimme des Mädchens. "Ab!" Dann rummst es. Irmtraut Wirth ist jetzt voll konzentriert, nachdenklich blickt sie auf die vier Mädchen, die in der Mitte der Turnhalle gerade etwas zu schnell aufeinander zu gefahren sind. Immerhin: Weder den Schülerinnen noch den Fahrrädern ist etwas passiert. "Aufpassen", ruft Wirth ihren Schützlingen zu. Die sind schon wieder in voller Fahrt, umkreisen sich mit den Fahrrädern und versuchen es dann noch einmal. Diesmal gelingt die Übung, die Mädchen bilden einen Kreis und halten die Balance.

Langsam lösen sich die Gesichter der vier, die eben noch so grimmig aussahen. Der Frust über das Malheur war nicht zu übersehen. Sie wissen: Wenn ihnen das in wenigen Wochen auch passiert, ist der Medaillentraum zu Ende. Denn die Punktrichter bei den Deutschen Meisterschaften der Kunstradfahrer sind streng, auch in den Schüler- und Jugendklassen. "Das ist ähnlich wie beim Schlittschuhlaufen", erzählt Wirth. Schon für kleine Abweichungen von der optimalen Körperhaltung gebe es Punktabzüge. "Das ist schon anstrengend - vor allem für die Jüngeren", sagt Wirth.

Ehrgeizig sind die Kinder und Jugendlichen des RSV Steinhöring trotzdem. Denn sie stehen in großer Tradition. Wirth hat den Verein 1979 gegründet, nachdem sie zuvor selbst zwanzig Jahre lang als Kunstradfahrerin aktiv war. Seit 1988 gab es kein Jahr mehr, in dem nicht einige ihrer Schützlinge bei den Deutschen Meisterschaften für Schüler oder Junioren gewannen, der RSV zählt zu den erfolgreichsten Kunstradvereinen Deutschlands. Die Erwartungshaltung in Verein und Ort sind entsprechend groß. "Als die Ersten einen Deutschen Meistertitel nach Steinhöring brachten, stand das Dorf Kopf", erinnert sich Wirth. Heute sei es hingegen eher eine Nachricht, wenn mal keine Steinhöringer Gruppe gewinnt.

Kunstradfahren Steinhöring 4er Frauen

Große Vorbilder für den Nachwuchs: Bei den Weltmeisterschaften 2013 in Basel holten die Damen den Titel.

(Foto: Michael Thomé)

In der Steinhöringer Turnhalle hat der RSV eine eigene Garage, in der Dutzende Fahrräder gelagert werden. Und ein paar der Pokale, abgestellt auf einem schmalen Fensterbrett, schräg gegenüber hängt der Trainingsplan für die nächsten Wochen. Stammbesucherin der Halle ist Wirth - sieben Tage pro Woche leitet die 74-Jährige hier Trainingseinheiten, schon ihrer Tochter hat sie das Kunstradfahren beigebracht. Inzwischen schwingt sich auch ihre Enkelin aufs Rad - wie alle Kinder und Jugendlichen im Verein zweimal pro Woche je zwei Stunden lang.

Die Karriere der möglichen späteren Meister beginnt auf dem Einrad, erst wenn die Kinder dort das Gleichgewicht halten können, sind sie für die Tricks auf dem normalen Rad bereit. "Das Erfolgserlebnis, auf dem Einrad alleine fahren zu können - das kann man sich gar nicht vorstellen", sagt Wirth. Lotte und Antonia haben es schon hinter sich. Die beiden Achtjährigen führen Wirth gemeinsam mit zwei anderen Mädchen ein Programm vor. Erst fahren sie in Kreisen durcheinander, dann halten sie sich an den Händen und fahren rückwärts - einhändig und nur auf dem Hinterrad. Wirth blickt abwechselnd zu der Gruppe und auf die Mappen vor sich. Stapelweise hat sie Listen voller Übungen dabei. Wer an Meisterschaften teilnehmen will, muss bestimmte Abfolgen von Figuren beherrschen. Die Kinder müssen also nicht nur ihren Gleichgewichtssinn schulen, sondern auch minutenlange Küren auswendig lernen.

Aber sie tun es gern, so wirkt es zumindest während der Trainingsstunde. Ob sie denn nicht - "Bittebitte!"- auf den Vorbereitungslehrgang für die Deutschen Meisterschaft mitdürften, fragen Lotte und Antonia bevor sie auf ihre Räder steigen. Wirth lächelt da nur milde, die Mädchen wollen jetzt erst recht beweisen, dass sie dafür geeignet sind. Etwa 40 Kinder und Jugendliche sind im RSV aktiv, sie sind zwischen fünf und 18 Jahre alt, kommen aus dem gesamten Landkreis und der näheren Umgebung. Warum sie so erfolgreich sind? Irmtraut Wirth stutzt kurz. Da sei sie überfragt, sagt die 74-Jährige. Dann fällt ihr doch noch etwas ein: "Das Rezept ist: Jeder muss jedem helfen." Immer wieder mal wird im Training auch gespielt oder gebastelt. Man müsse halt einen Weg finden, die Kinder zu halten, erklärt Wirth. Ihr scheint es gelungen zu sein, die meisten bleiben, bis sie Studium oder Beruf aus der Gegend treiben. Und das mit großem Erfolg: Vier Mal in Folge gewann der Vierer Kunstradfahren des RSV zwischen 2010 und 2013 den Weltmeistertitel der Frauen, einer der Spezialdisziplinen der Steinhöringer, zwei Buben gewannen jüngst drei Mal hintereinander einen Deutschen Meistertitel. Vor allem in den Team-Disziplinen sind die Steinhöringer Spitze.

SZ-Talentiade: Das Training ist für den Nachwuchs eine Herausforderung - aber auch ein großer Spaß.

Das Training ist für den Nachwuchs eine Herausforderung - aber auch ein großer Spaß.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Inzwischen ist eine neue Gruppe von vier Mädchen nachgewachsen, das Ziel in diesem Jahr: die erste gemeinsame Teilnahme an der Weltmeisterschaft. Die findet heuer in Malaysia statt und dürfte der Reiseliste des RSV Steinhöring nochmal einige Kilometer hinzufügen. Schon jetzt sind die Kinder und Jugendlichen ja ganz schön unterwegs - etwa 15 000 Kilometer im Jahr schätzt Wirth. Vor ihr macht sich jetzt Nicole bereit. Die 14-Jährige beschleunigt ihr Rad im Kreis, steigt erst auf den Rahmen des Fahrrads, dann von dort auf den Lenker. Jetzt steht sie da, mit ausgebreiteten Armen und lässt sich von dem immer noch sehr schnellen Fahrrad im Kreis fahren. Beeindruckend sieht das aus, auch Wirth ist zufrieden. Viel Laufarbeit für den Trainer sei es, bis das System mal so stabil sei, erzählt sie.

In der anderen Hälfte der Halle beschäftigen sich derweil die anderen Kinder und Jugendlichen. Kleine Mädchen fahren auf dem Einrad durch die Halle und werden von Freundinnen gestützt, einige Meter vor der Sprossenwand dreht eine ältere Schülerin freihändig Pirouetten mit dem Rad. Immer schneller wird sie, bis sie zackig den Lenker packt und abspringt. "Puuh!" - gerade noch gut gegangen. Vor Wirth drehen inzwischen ein paar jüngere Mädchen ihre Kreise. Noch sind sie neu auf dem Zweirad, das sieht man auch. Aufeinander schauen und gleichzeitig nach Wirths Anweisungen fahren - so richtig will das noch nicht klappen. Aber wer weiß: Vielleicht fahren hier vier kommende Weltmeisterinnen.

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