Steinhöring:Raum für Begegnung

Seit einem Jahr gilt im Einrichtungsverbund Steinhöring der Ausnahmezustand. Was hat sich in dieser Zeit verändert, und wie gehen vor allem die Kinder und Jugendlichen damit um? Ein Gespräch mit Mitarbeitern und einem jungen Erwachsenen

Von Jörg Lehne, Steinhöring

In einer Ecke lacht jemand laut auf. Hier und da klimpert es über das Stimmengewirr hinweg, wenn jemand seinen Kaffee umrührt oder mit der Gabel über den Teller mit dem Stück Erdbeerkuchen kratzt. Spielende Kinder drücken sich durch eine Schlange Wartender, darunter Junge und Alte, Menschen mit und ohne Behinderung. So könnte ein Tag im Café Wunderbar des Einrichtungsverbundes Steinhöring (EVS) ausgesehen haben. Doch heute?

Heute stehen nur noch wenige Tische im Saal, alle mit einer Nummer versehen. Das Café ist jetzt Corona-Testzentrum für Angestellte des Einrichtungsverbunds. Wer am Standort Steinhöring arbeitet, muss sich hier seit Januar dreimal die Woche testen lassen.

1971 unter der Trägerschaft der Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising gegründet, begleitet und unterstützt der EVS Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung seit fast 50 Jahren mit dem erklärten Ziel der selbstbestimmten Teilhabe und Inklusion seiner Klienten. Zu seinen Einrichtungen zählen unter anderem Wohnbereiche, Werkstätten, Schulen und Tagesstätten. Geschaffen wurde der Verbund, um Integration und menschliche Begegnung zu ermöglichen, doch in Zeiten einer Pandemie besteht dafür kaum noch Raum. Ein Blick durch die Fenster des leeren Cafés Wunderbar belegt das.

Steinhöring: Im Konferenzraum der heilpädagogischen Tagesstätten des Einrichtungsverbundes Steinhöring (EVS) ist momentan das Corona-Testzentrum für die Angestellten.

Im Konferenzraum der heilpädagogischen Tagesstätten des Einrichtungsverbundes Steinhöring (EVS) ist momentan das Corona-Testzentrum für die Angestellten.

(Foto: Christian Endt)

Stivan ist 19 und denkt gerne an Veranstaltungen im Café zurück. Er geht auf die Korbinianschule des EVS für geistig und mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche und wird nachmittags in der daneben gelegenen Tagesstätte betreut. Für das Interview ist Stivan aus dem Unterricht geholt worden. Einen Teil seiner Mittagspause wird er auch verpassen, doch das kümmert ihn nicht: "Ist egal. Das hier ist wichtiger."

Seit langem kann er im Rahmen der Notbetreuung wieder in den Präsenzunterricht. Klassen von ursprünglich zehn Schülern wurden auf Sechsergruppen reduziert. Wer in die gleiche Schulklasse geht, wird nun aus Infektionsschutzgründen auch in der Tagesstätte in die gleiche Gruppe eingeteilt. Kohortierung nennt sich das. Zum Zeitpunkt des Gesprächs fehlen noch viele Kinder in der Schule. Inzwischen sollen jedoch auch die Jahrgangsstufen eins bis sechs wieder im Wechselunterricht vor Ort betreut werden dürfen. Wolfgang Dressler, Leiter der Tagesstätte, fürchtet, dass die verfügbaren Räume dadurch bald zu klein und zu wenige werden können.

Für Stivan aber ist das vor allem ein Schritt zurück in Richtung Normalität. "Hier ist es viel besser als zuhause." Die Wochen des ersten Lockdowns seien "schrecklich" gewesen. Eingesperrt habe er sich gefühlt. Ausgesperrt sind dagegen alle, die noch immer keinen Fuß in die Schule setzen können. Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: Per Live-Schaltung können Kinder aus der Isolation in den Unterrichtsraum geholt werden und sich, obwohl sie vor einem Bildschirm sitzen, als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Meistens erzählten sie, wie sehr sie es vermissen, in der Schule zu sein, sagt Stivan. Es lässt sich eben nicht alles digital ersetzen. Die zusätzliche Zuwendung, welche Schule und Tagesstätte bieten, soll auch einen Weg in ein selbstbestimmtes Leben bieten. In der Schule werde daher auf individuelle Betreuung gesetzt, sagt Dressler, es gebe nur sehr wenig Frontalunterricht. In der Tagesstätte kämen auf Gruppen von neun Personen im Regelfall zwei Fachkräften und eine Hilfskraft. Hier sollen die Kinder Chancen bekommen, die ihnen im Alltag oft verwehrt bleiben. Hier sind alle verbunden, nicht obwohl, sondern weil sie verschieden sind.

Steinhöring: Die Leiterin des EVS, Gertrud Hanslmeier-Prockl, fiebert der Rückkehr zur Normalität nach der Pandemie entgegen.

Die Leiterin des EVS, Gertrud Hanslmeier-Prockl, fiebert der Rückkehr zur Normalität nach der Pandemie entgegen.

(Foto: Christian Endt)

Stivan geht in die 10 Klasse, das heißt in die Berufsschulstufe. Damit beginnt eigentlich die Zeit, um über eine Berufslaufbahn nachzudenken. Pandemiebedingt habe er jedoch erst ein Praktikum in einer Werkstätte des EVS machen können. "Ich habe zum Glück noch viel Zeit", sagt er, "aber am liebsten würde ich Kindererziehung machen". Das Handwerkliche mache ihm zwar auch Spaß, in einer Werkstatt gäbe es jedoch zu viele Möglichkeiten, sich zu verletzen. Stivan hat Epilepsie.

Aus all den Veränderungen sticht für ihn vor allem eine heraus. Er trägt sie jeden Tag vor der Nase. "Die Masken sind schlecht für die Kinder." Trotzdem habe er Verständnis für die Maßnahme. Lieber trage er eine Maske, als zu riskieren, einen seiner Mitmenschen anzustecken. Er wolle auf keinen Fall, dass jemand in seiner Umgebung an den Folgen des Virus stirbt.

Zunächst schienen die Veränderungen keine großen Auswirkungen auf die Kinder zu haben, sagt Veronika Harlander. Sie ist psychologische Betreuerin in der heilpädagogischen Tagesstätte. Von den kleineren Gruppen schienen viele Kinder sogar zu profitieren. Bald jedoch beklagten sich die ersten über die Maskenpflicht und die Gesamtsituation. Zuletzt seien sogar Rückschritte zu bemerken gewesen: "Wir sehen, dass viele Kinder immer unselbstständiger werden. Sie sind mehr angewiesen auf persönliche Zuwendung."

Steinhöring: Stivan (rechts) besucht die Korbinianschule in der Steinhöringer Einrichtung.

Stivan (rechts) besucht die Korbinianschule in der Steinhöringer Einrichtung.

(Foto: Christian Endt)

Seit Monaten läuft nichts mehr in gewohnten Bahnen. Die Arbeit sei sehr viel spontaner geworden, sagt Wolfgang Dressler. Jede Änderung habe Auswirkungen, doch vom Ministerium kämen neue Vorgaben oft erst in letzter Sekunde. "Man schafft Vertrauen durch Sicherheit, aber eine klare Struktur fehlt", so Dressler. Bei Angestellten und Eltern sei dadurch viel Unsicherheit entstanden. Deswegen bemüht sich die Leitung des EVS mehr denn je um eine gute Kommunikation und enge Einbindung ihrer Klienten.

Sie steht dabei in vorderster Reihe: Gertrud Hanslmeier-Prockl, Leiterin des EVS erzählt von den ersten Wochen, die durch das Virus bestimmt wurden. Nachdem von den Frühförderstellen des EVS vermehrt von Corona-Fällen in Kindergärten berichteten worden war, seien schnell Masken aus China bestellt worden, bevor Lieferengpässe auftreten konnten. Allein 2020 wurden 100 000 Euro für Schutzmaterialien ausgelegt. Kosten, die womöglich nicht mehr reingeholt werden können. Im März des Vorjahres dann der erste Corona-Fall im EVS. Umgehend seien die Förder- und Werkstätten geschlossen worden, einen Tag vor der offiziellen Anordnung. Der Bedarf im Bereich der Kinderbetreuung sei damit so schlagartig eingebrochen, wie er im Bereich Wohnen angestiegen sei. Personal aus dem Kinderbereich musste daher kurzerhand in den Wohnbereich verlagert werden. Viele, die dort leben sind hoch vulnerabel und mussten zu ihrem Schutz praktisch isoliert werden. "Am Anfang hatte ich große Sorge, dass Menschen sterben", sagt Hanslmeier-Prockl.

Steinhöring: Wer am Standort Steinhöring arbeitet, muss sich seit Januar dreimal die Woche testen lassen.

Wer am Standort Steinhöring arbeitet, muss sich seit Januar dreimal die Woche testen lassen.

(Foto: Christian Endt)

Durch das Fenster ihres Büros kann sie dabei auf eine der Förderstätten zur Betreuung von Menschen mit besonders schwerer Behinderung blicken. 1936 diente der Bau noch einem anderen Zweck, er diente der SS als Heim zur Umsetzung ihres menschenverachtenden Projekts Lebensborn. Die Erinnerung daran zeigt eindringlich, dass die Anstrengungen ihrer Mitarbeiter, auf die Hanslmeier-Prockl voll Bewunderung blickt, nicht immer selbstverständlich waren.

Anstrengungen, die mancherorts unerwartete Früchte getragen haben: Es habe viel Skepsis geherrscht, ob digitale Betreuung von schwerstbehinderten Kindern funktionieren könne. Durch die Pandemie wisse man nun: "Das geht sehr wohl." Versuchsweise habe man ein schwerstbehindertes Mädchen digital am Schulunterricht teilnehmen lassen. "Als es vorbei war, hat sie geweint", sagt Hanslmeier-Prockl.

Mit dem Sommer kommt auch die Hoffnung. Für das nächste Halbjahr wolle sie ein Zeichen des Aufbruchs setzen, sagt die Leiterin. Bald nämlich soll das 50-jährige Bestehen des EVS gefeiert werden. Hanslmeier-Prockl ist angesichts der steigenden Impf- und sinkenden Infektionszahlen zuversichtlich, dass dies in irgendeiner Form im Freien möglich sein wird. Das Café Wunderbar hätte eine schöne Terrasse für diesen Anlass.

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