Steinhöring/Erding:Team Wallraff dreht heimlich an Behindertenschule

Steinhöring/Erding: Offenheit für Besucher gehört zum Konzept der St. Nikolaus-Schule. Jetzt greift jedoch Verunsicherung um sich.

Offenheit für Besucher gehört zum Konzept der St. Nikolaus-Schule. Jetzt greift jedoch Verunsicherung um sich.

(Foto: Renate Schmidt)

Eine Mitarbeiterin der RTL-Sendung macht inkognito Aufnahmen an der St. Nikolas-Schule des Einrichtungsverbunds Steinhöring. Dort greift jetzt die Furcht vor der nächsten Sendung um sich.

Von Antonia Steiger, Steinhöring/Erding

Die St. Nikolaus-Schule für geistig und mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche in Erding sorgt sich um ihr Image: Im September hat dort eine Mitarbeiterin der Sendung "Team Wallraff" unerkannt drei Tage lang als Praktikantin gearbeitet. RTL-Sprecher Matthias Bolhöfer bestätigte dies der SZ am Freitag.

Nun fürchtet Schulleiter Georg Bauer, dass seine Schule in einem schlechten Licht erscheinen könne. So sei möglicherweise zu sehen, wie ein schwerst behindertes Mädchen mehrmals am Tag trinken müsse. Doch das sei für dieses Mädchen überlebenswichtig, weil es viele Medikamente nehme, betonte die Elternbeiratsvorsitzende Andrea Rauscher in einem Pressegespräch. Über eine Anwaltskanzlei hat die Schule gefordert, dass die Aufnahmen nicht verwendet werden. Die nächste Sendung "Team Wallraff" wird am Montag, 20. Februar, ausgestrahlt.

Der Einrichtungsverbund Steinhöring der katholischen Jugendfürsorge, dem die St. Nikolaus-Schule angehört, wolle Transparenz schaffen, betonte die Leiterin des Verbundes, Gertrud Hanslmeier-Prockl. Eltern und Betreuer aller in dem Verbund beschäftigten und betreuten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen wurden in einem Brief über den Vorfall informiert.

Sämtliche Bürgermeister im Landkreis Erding wissen Bescheid. In der kommenden Woche soll es einen Elternabend geben, die Schulleitung hat viele Gespräche mit Mitarbeitern geführt. "Die Verunsicherung und Bestürzung ist groß", sagte Hanslmeier-Prockl. Viele fürchteten, in einem schlechten Licht gezeigt zu werden.

Die RTL-Mitarbeiterin gab sich als Berliner Studentin aus

Die RTL-Mitarbeiterin hat sich laut Schulleiter Bauer als Stefanie Sott, Berliner Studentin der Erziehungswissenschaften, vorgestellt. Kollegen hätten sie mittlerweile als RTL-Mitarbeiterin identifiziert. Die Aufnahmen habe sie mit einer in eine Brille eingebauten Kamera angefertigt. Das Praktikum habe sie jedoch schon nach drei Tagen abgebrochen.

Im Januar bekam die Schule dann einen Brief der Firma Infonetwork, laut Hanslmeier-Prockl eine 100-prozentige RTL-Tochter. Die Schule sei gebeten worden, Fragen zum Personalschlüssel zu beantworten, aber auch zu Vorgängen, die sich während des Aufenthalts der RTL-Mitarbeiterin ereignet hätten. Zum Beispiel ob es sinnvoll sei, dass ein Autist mehrmals die Klassenzimmer wechseln müsse. Dies sei nicht nur unvermeidbar - insbesondere am Beginn eines neuen Schuljahres -, sondern auch sinnvoll, betonten Bauer und Hanslmeier-Prockl.

Die Schule stärke die Wahlfreiheit der Schüler, solche mit Autismus-Spektrumsstörung erhielten Strukturierungshilfen. In dem Schreiben seien der Schule pädagogische Mängel und den Mitarbeitern Überforderung und Fehlverhalten unterstellt worden. Dass das schwerst behinderte Mädchen trinken müsse, bezeichne Infonetwork als "Nötigung".

Die Schule übergab das Schreiben der Berliner Anwaltskanzlei Schertz Bergmann, die auch Jan Böhmermann im Strafverfahren wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan vertreten hat. Die Kanzlei habe RTL darauf hingewiesen, dass der Personalschlüssel erfüllt werde, und habe gefordert, dass die Aufnahmen nicht gesendet werden.

Des weiteren wies die Kanzlei darauf hin, dass sie die Persönlichkeitsrechte der Schüler und Mitarbeiter in Gefahr sähen. Laut Hanslmeier-Prockl rechnen die Anwälte jedoch nicht damit, dass RTL auf eine Ausstrahlung verzichtet. Bolhöfer sagt, es werde zugesichert, dass die "journalistischen Sorgfaltspflicht" "grundsätzlich penibelst eingehalten" werde.

Bisher habe es nie eine Beschwerde der Eltern gegeben, heißt es

Georg Bauer, Gertrud Hanslmeier-Prockl und Andrea Rauscher betonten am Donnerstag, dass sie nicht wüssten, warum RTL an der St. Nikolaus-Schule gedreht habe. Es habe noch nie eine Beschwerde von Eltern gegeben, sagte Rauscher. Die Mitarbeiter gingen gerne in die Arbeit, sagte Hanslmeier-Prockl. 2015 wurde der Einrichtungsverbund sogar als "Great place to work" ausgezeichnet.

Und dennoch: Alle drei fürchten, dass die Filmszenen dem Ruf der Schule schaden könnten. Aus dem Zusammenhang gerissen könne der Eindruck entstehen, dass die Mitarbeiter falsch mit den Kindern und Jugendlichen umgingen. Bauer sagte: "Fehler passieren immer." Aber grundsätzlich sind er, Hanslmeier-Prockl und Rauscher von der hohen Qualität ihrer Arbeit zutiefst überzeugt.

Auch wenn im September keiner Verdacht geschöpft hatte: Als der Brief im Januar eingetroffen sei, hätten sich alle an die angebliche Praktikantin erinnert, sagte Bauer. Sie habe sich auffällig verhalten, den Unterricht gestört und die Schüler ständig befragt. Sie habe den Stresspegel für alle erhöht. Dass auf diese Weise in einen solchen Vertrauensbereich eingegriffen worden sei, "ärgert uns im Elternbeirat ganz fürchterlich", sagte Rauscher.

Die Offenheit der Schüler gegenüber Besuchern sei "schamlos ausgenutzt" worden, heißt es in dem Brief der Schule an die Eltern. Ob und wann ein Beitrag bei "Team Wallraff" über die St. Nikolaus-Schule gesendet wird, dazu sagte Bolhöfer nichts. Das Thema der Sendung werde zweieinhalb Stunden vor der Ausstrahlung bekannt gegeben.

An weiteren drei Einrichtungen, alle in Nordrhein-Westfalen, hat RTL laut Hanslmeier-Prockl gefilmt, sie hatte die Einrichtungen über Landes- und Bundesverbände informiert. Unklar ist ihr, ob es dem "Team Wallraff" um die Situation der behinderten Kinder oder um die der Mitarbeiter gehe. Unklar ist auch, was die angebliche Praktikantin überhaupt gefilmt habe. "Zwischendurch war sie sogar ganz verschwunden", sagte Bauer.

An der St. Nikolaus-Schule, an der knapp sechzig Schüler und 16 Vorschulkinder unterrichtet und viele nachmittags an der Heilpädagogischen Tagesstätte betreut werden, sind die Folgen des Vorgangs zu spüren. "Wir legen großen Wert auf Offenheit", sagte Hanslmeier-Prockl. Aber jetzt beobachte jeder mit Misstrauen, wer die Schule betrete. Auch die Begeisterung, mit Praktikanten zu arbeiten, habe nachgelassen. "Dabei ist es uns so wichtig, andere für die Arbeit mit behinderten Menschen zu begeistern."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: