Der Beginn des Gesprächs ist ein etwas schüchterner. "Fang ich mal an, ok?", fragt Paul Maar in den Raum, bevor er ansetzt zu erzählen. Bescheiden, sympathisch, wortgewandt - diese Eigenschaften kann man beiden Gästen gleichermaßen zuschreiben, die bei der 104. Sonntagsbegegnung im Markt Schwabener Bürgersaal im Unterbräu aufeinandertreffen. Der Kinderbuchautor Paul Maar unterhält sich mit dem Grünen-Politiker Cem Özdemir über "Kinder, Geschichten, Zukunft". Musikalisch begleitet der Gitarrist Wolfgang Stute durch den Vormittag mit melancholischen bis ergreifenden Melodien, initiiert wird die Veranstaltungsreihe von Bernhard Winter. Die Gäste, coronabedingt handverlesen, sitzen erwartungsfroh auf ihren Plätzen, Özdemir hat seinen Sohn mitgebracht, Maar die Lesebrille.
Die beiden kennen sich bereits von einer Lesung Paul Maars, in der Geschichten von Nasreddin Hodscha, dem türkischen Till Eulenspiegel, zum Besten gegeben wurden. Maar hatte sich mit dessen Hanswurstiaden auseinandergesetzt und eigene Erzählungen hinzugefügt. In der Pause der Lesung war Cem Özdemir, bis dahin im Publikum, auf den Autor zugegangen und hatte gebeten, ob er vielleicht den Nassredin lesen dürfe. Und weil das schon auf der vergangenen Lesung so gut funktioniert zu haben scheint, tragen Maar und Özdemir auch in Markt Schwaben erst einmal gemeinsam eine Anekdote aus dem Leben des türkischen Schelms vor.
"Das Tolle an den Geschichten ist: die haben sich Leute weiter erzählt von niedrigem und hohem Bildungsstand", sagt der Grünen-Politiker und erinnert sich an seine eigene Kindheit. Sein Vater, ein Analphabet, habe ihm oft vor dem Einschlafen von Nassredin Hodscha erzählt.
Und schon sind die beiden mitten im Thema. Ob er auch deutsche Kinderbücher gelesen habe, will Paul Maar wissen. "Ich war ein Spätberufener", bekennt Özdemir. Bis zur vierten Klasse habe er eine Fünf in Deutsch gehabt, erst in der Hauptschule schenkte ihm dann seine Nachhilfelehrerin ein Buch, das mehr Text als Bilder enthielt: "Das war der Hirbel" von Peter Härtling. Und so sei er mit der Welt des Lesens eigentlich erst in Berührung gekommen. Viele Jahre später habe er Härtling angerufen und ihm für das Buch gedankt. Wenn er seinen Kindern heute Bücher vorlese, so Özdemir, lese er die eigentlich auch für sich.
Ganz anders hat sich das Lesen für Paul Maar in seiner Kindheit gestaltet. Im Regal seines Vaters, eines Malers und Stuckateurs, standen genau drei Bücher: ein Wilhelm-Busch-Buch, ein Duden und ein Sprachbrockhaus. Erst mit seinem Sohn, der schon mit sechs Jahren ein begeisterter Leser war, habe er Bücher wie die von Michael Ende kennen und schätzen gelernt. "Das will ich auch machen", beschloss er für sich, und so entstand sein erstes Buch, "Der tätowierte Hund".
Der Schriftsteller und Schaffer des "Sams" ist es, der unumwunden ein umstrittenes Thema anspricht: das Gendern, für das er der Parteilinken der Grünen die Schuld gibt. So sei es für Kinder unverständlich, wenn sie immer auch die weibliche Form mitlesen müssen, sagt Maar. Etwas verschmitzt pariert Özdemir: "Ich glaube nicht, dass die Grünen das erfunden haben." Er räumt ein, dass man die Menschen nicht überfordern dürfe. Auch wenn er etwa beim Twittern darauf achte, stets die weibliche Form zu integrieren, mache er das nicht zum absoluten Anspruch an andere. "Groteske Züge" nehme diese Art der Sprachregulierung jedoch an, findet Maar, wenn etwa ein Buch über Sklaverei von einer renommierten Wissenschaftlerin aus dem Programm genommen werde, weil die Autorin selbst keine Vorfahren hat, die Sklaven waren.
Als Paul Maar, auf eine Frage aus dem Publikum hin, sich zu dem Klischee "Die Sprache der Jugend verschlampt durch Whatsapp zusehends" hinreißen lässt, lenkt Özdemir ein, man müsse aufpassen, nicht in Kulturpessimismus zu verfallen. Früher, so der Politiker, habe man vor Comics gewarnt; heute sei man froh, wenn Kinder Comics lesen. Man einigt sich auf die Erkenntnis, dass nichts das Lesen und Vorlesen ersetzt.
Dass die Stunde, die diese Sonntagsbegegnung dauert, viel zu schnell vorbei ist, zeigt nicht nur Paul Maars Bemerkung "Ich könnte noch weiterreden." Auch das Publikum scheint jede Minute dieses kurzweiligen Gesprächs genossen zu haben. Vor dem Bürgersaal unterhalten sich im Anschluss zwei Frauen. "Des war so a guade Idee von dir", sagt die eine. "Was?", fragt die zweite. Die erste antwortet: "Hier her zum geh."