Süddeutsche Zeitung

Selbsthilfegruppen:Ein Ort, um Tabus anzusprechen

Wenn ein Kind psychisch erkrankt, hilft oft der Austausch mit anderen betroffenen Familien. Vor zwanzig Jahren hat Brigitte Weitzer die erste Selbsthilfegruppe im Landkreis Ebersberg gegründet - aus eigener Betroffenheit.

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

In dunklen Zeiten ist es immer gut, wenn man jemanden an seiner Seite hat. Wenn es Menschen gibt, die Ähnliches durchmachen, oder die vielleicht schon Erfahrung damit haben, wie man am besten umgeht mit der Dunkelheit. Als eine der Ersten im Landkreis hat Brigitte Weitzer aus Grafing verstanden, wie wichtig Selbsthilfegruppen sind: In diesen kommen Menschen, die beispielsweise schlimme Schicksalsschläge erlebt haben, regelmäßig zum Austausch zusammen. Bereits vor 20 Jahren gründete Weitzer die Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch erkrankter Menschen in Ebersberg (ApK) - aus eigener Betroffenheit heraus.

Bei einem Angehörigen Weitzers wird Anfang der 2000er eine psychische Krankheit diagnostiziert. In dieser Zeit treffen die Weitzers im Rahmen einer Familientherapie der Sozialpsychiatrischen Dienste in Ebersberg (Spdi) andere Menschen, die ebenfalls psychisch erkrankte Angehörige haben. Nachdem diese Treffen irgendwann aus finanziellen Gründen eingestellt werden, geht Brigitte Weitzer ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf: "Ich brauche diese Menschen, um mich mit ihnen auszutauschen." Selbsthilfegruppen gibt es zu diesem Zeitpunkt vereinzelt in München, jedoch nicht auf dem Land, in Ebersberg. Weitzers Bedürfnis aber ist so stark, dass sie es selbst in die Hand nimmt, Treffen von Angehörigen zu organisieren. Zuerst finden diese in Gasthäusern statt, dann bieten die Spdi Räume dafür an.

"Anfangs waren wir vielleicht sechs bis acht Leute", erzählt Brigitte Weitzer. Eine der ersten Mitstreiterinnen ist Rosa Rapolder aus Ebersberg. Sie hat einen Angehörigen, der schon seit vielen Jahren an paranoiden Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis erkrankt ist. "Die Gruppe war für mich sehr wichtig", erzählt sie, "ich bin zu jedem Treffen gegangen". Man könne dort sehr offen sein, seine Probleme erzählen in einem geschützten Raum. "Das hat mir sehr geholfen. Man sieht auch Parallelen zu den anderen, gibt sich Tipps und Ratschläge, wo man zum Beispiel hingehen kann", so Rapolder.

Auch hofft sie, dass durch die Arbeit der Selbsthilfegruppen das Thema enttabuisiert wird, denn: "Psychische Krankheiten sind normale Krankheiten." Je mehr auch Nicht-Betroffene darüber wüssten, umso größer würde die Akzeptanz in der Gesellschaft, so Rapolder. Auch wenn die akute Phase der Erkrankung des Familienmitglieds längst vorbei ist, geht sie immer noch regelmäßig zu den Treffen der AkP. "Das ist für mich auch ein kleines Stück Heimat geworden", sagt Rosa Rapolder.

In den Kliniken werden die Familien heute viel mehr mit einbezogen

Derzeit sind rund 25 Menschen bei der Ebersberger Selbsthilfegruppe dabei, durchschnittlich zehn bis zwölf Teilnehmer kommen zu jeder Sitzung. Waren es vor allem früher Angehörige von Menschen mit Schizophrenie, sind heute auch viele Familien mit einem an Depression erkrankten Mitglied dabei. "Das hat sich seit Corona verändert", sagt Brigitte Weitzer. Seit zwanzig Jahren nun leitet sie die Selbsthilfegruppe AkP in Ebersberg und hat schon viele Lebensgeschichten gehört. "Es gab auch drei Todesfälle in dieser Zeit", sagt sie - drei Menschen, die sich umgebracht haben. "Das war schwierig für die ganze Gruppe."

Im Großen und Ganzen sei die Gesellschaft aber auf einem guten Weg im Umgang mit psychischen Erkrankungen, glaubt Brigitte Weitzer. Die Kliniken etwa würden die Familien heute viel mehr mit einbeziehen bei der Behandlung der Patienten; früher sei man als Angehöriger eher nicht wahrgenommen worden. Dieses neue Bewusstsein ist nicht zuletzt ein Verdienst von Angehörigen und Selbsthilfegruppen wie jener in Ebersberg, die seit Jahren unermüdlich für Offenheit und Toleranz werben.

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