Selbsthilfe:Toben verboten, Eis essen auch

Selbsthilfe: Rektorin Barbara Mäusl hat neben der Leitung der Grundschule Steinhöring auch die der Schule in Hohenlinden übernommen.

Rektorin Barbara Mäusl hat neben der Leitung der Grundschule Steinhöring auch die der Schule in Hohenlinden übernommen.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Barbara Mäusl und Diana Kottwitz haben die erste Selbsthilfegruppe im Landkreis für Eltern gegründet, deren Nachwuchs an Diabetes Typ 1 erkrankt ist

Von Anja Blum, Ebersberg

Manchmal muss der zweijährige Paul still sitzen, obwohl er lieber rennen würde. Und darf kein Eis essen wie die anderen Kinder, oder das lange Shirt trotz Sonnenschein nicht gegen ein kurzes tauschen: Diana Kottwitz muss für ihren Sohn ziemlich oft den Spielverderber geben, viel öfter jedenfalls, als ihr lieb ist. Der Grund: Der Zweijährige hat Diabetes Typ 1.

Wie radikal sich das Leben mit dieser Diagnose verändert, weiß auch Barbara Mäusl, die wie Kottwitz in Ebersberg lebt. Ihr 13-jähriger Sohn Leander leidet ebenfalls an der Autoimmunkrankheit. Gemeinsam haben die Frauen nun die erste Selbsthilfegruppe für Familien mit betroffenen Kindern im Landkreis gegründet. Denn sie haben die gleiche Erfahrung gemacht: "Man fühlt sich völlig überfordert und alleingelassen", so Mäusl. "Es gibt einfach keine Anlaufstelle, wo man sich Informationen und Hilfe holen kann", ergänzt Kottwitz. Das erste Treffen im Gasthof Huber in Oberndorf hat bereits stattgefunden: Ein voller Erfolg, es kamen sieben betroffene Familien.

Menschen mit Diabetes Typ 1 produzieren kein oder nur kaum Insulin. Das Hormon hat die Aufgabe, den mit der Nahrung aufgenommenen Zucker aus dem Blut in die Zellen zu schleusen, die ihn zur Energiegewinnung benötigen. Bei Diabetikern sammelt sich der Zucker im Blut an - der Spiegel steigt. Betroffene müssen deswegen Insulin spritzen, um akute Stoffwechselentgleisungen sowie langfristige Folgeschäden zu verhindern. Ohne Insulinzufuhr kommt es zu einem diabetischen Koma, das ohne Gegenmaßnahmen tödlich enden kann. Die Krankheit entsteht oft schon im Kindesalter, die Ursachen liegen bislang genauso im Dunkeln wie mögliche Heilungsansätze. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland 300 000 Menschen daran. Verlässliche Zahlen gibt es aber nicht, da Diabetes nicht meldepflichtig ist. Mäusl und Kottwitz sind jedenfalls überzeugt, dass hier eine neue Volkskrankheit im Anmarsch sei.

"Wären wir zehn Minuten später in der Klinik gewesen, hätten wir ein Riesenproblem gehabt", sagt Kottwitz, "Paul war kurz vorm diabetischen Koma." Vor einem Jahr brach der damals fast Zweijährige plötzlich zusammen, ohne vorher typische Symptome wie starken Harndrang, vermehrten Durst, Müdigkeit oder Gewichtsverlust zu zeigen. "Er hat nur geschlafen wie ein Stein, aber ich habe bald gemerkt, dass etwas nicht stimmte", erzählt die Mutter, eine ausgebildete Intensivkrankenschwester. Paul sei kaum wach zu bekommen gewesen, selbst in der Klinik habe er zwei Tage lang weder gegessen noch getrunken und kaum auf etwas reagiert. "Dazu die ganzen Spritzen - es war schlimm", sagt die Mutter. Schließlich könne man einem Kind in diesem Alter so eine Situation ja überhaupt nicht vernünftig erklären.

Das sei auch bis heute so. Zwar könne Paul schon selbst das Gerät zusammenbauen, mit dem Tag und Nacht sein Blutzuckerwert gemessen werden muss, doch Verständnis für die vielen Ver- und Gebote könne man von einem knapp Dreijährigen nicht erwarten. "Gerade bei so kleinen Kindern sind die Schwankungen der Blutzuckerwerte nämlich besonders groß", erklärt die Mutter, so dass sie ständig auf der Hut sein müsse. Sind die Werte zu niedrig, darf Paul nicht herumrennen, sind sie zu hoch, wird er schon mal die Treppe rauf und runter gescheucht.

Nicht zu vergessen das Thema Essen, das ständig penibelst kontrolliert werden muss, weil es direkten Einfluss hat auf die Blutwerte und mit der Dosierung des Insulins korrelieren muss. Brezen etwa, Pauls Leibgericht, seien für einen Diabetiker wie ihn schwierig, erklärt Kottwitz. Broteinheiten (BE) sind hier das Zauberwort, 110 Gramm Apfel entsprechen einer BE, wegen des Fruchtzuckers. Die Küchenwaage ist daher eines der wichtigsten Geräte im Haushalt betroffener Familien. "Doch um sinnvoll abwiegen zu können, muss man erst einmal wissen, was überhaupt in was drin ist. Da alles richtig zu machen ist nicht einfach", sagt Kottwitz.

Dazu die ständige Angst vor einem neuen Zusammenbruch, immer wieder Krankenhausaufenthalte, keine Nacht durchgehenden Schlaf - "da kommt man schon an seine Grenzen". Ebenfalls nicht einfach ist die Situation für Geschwister: Pauls Bruder, der siebenjährige Lukas, "hat immer noch Angst, dass sein Bruder sterben könnte", erzählt die Mutter.

Auch um diesen Gefühlen entgegenzuwirken, versucht Kottwitz, Paul ein so normales Leben wie möglich zu bieten - zu dem freilich auch Kontakte mit Gleichaltrigen gehören sollten. "Aber egal, wo ich angefragt habe, Pekip, Kinderturnen, wir haben lauter Absagen bekommen." Die Begründung sei dabei stets die gleiche: zu gefährlich. "Selbst wenn ich dabei wäre." Nur in der Krümelkiste in Oberndorf, einer privaten Initiative, hat Paul Aufnahme gefunden, hier kann er ein paar Stunden die Woche verbringen. "Dafür bin ich sehr, sehr dankbar", sagt Kottwitz. Doch nun wird Paul bald drei, es wäre Zeit für den Kindergarten. In Ebersberg allerdings hat die Familie keinen Platz bekommen, wegen des Diabetes. Fündig geworden ist Kottwitz nun in Grafing, beim Guten Hirten, einer integrativen Einrichtung. "Die sind Gott sei Dank bereit, das mit uns auszuprobieren." Klappt das, würde die Mutter gerne wieder ein bisschen arbeiten, doch auch das wird sich vermutlich schwierig gestalten. "Ich muss ja ständig auf Abruf sein."

Und doch: "Hoffnung gibt uns Leanders Vorbild", sagt Kottwitz. Dessen Familie hat die Diagnose vor eineinhalb Jahren zwar auch "wie der Schlag getroffen", doch mittlerweile hat der 13-Jährige zu einem vergleichsweise normalen Leben gefunden. Er geht in die siebte Klasse am Grafinger Gymnasium, hat Freunde, spielt Handball. Seinen Blutwert misst Leander über einen Chip am Oberarm, das Insulin kann er selbst dosieren und spritzen. "Er geht einfach wahnsinnig souverän und vernünftig damit um", lobt sein Vater Markus Lettl. "Die Spritzen nerven halt manchmal", sagt Leander selbst und zuckt das Problem mit den Schultern weg. Seine Eltern würden ihm die Spritzen freilich gerne ersparen und versuchen daher derzeit, von der Krankenkasse eine Insulinpumpe genehmigt zu bekommen. Eine solche gibt das Hormon wie die Bauchspeicheldrüse rund um die Uhr in kleinen Mengen ab, um den Grundbedarf des Körpers zu decken. Das zu den Mahlzeiten zusätzlich benötigte Insulin wird per Knopfdruck abgerufen. "Damit hätte Leander einfach mehr Lebensqualität, könnte auch mal spontan ein Eis essen oder Sport machen", sagt die Mutter, Barbara Mäusl. Sorgen bereitet ihr derzeit die bevorstehende Pubertät. "Wer weiß, ob er dann noch so vernünftig ist?"

Ein Problem, das beide Familien vereint: "Man muss ich um alles selber kümmern." In der Klinik werde man zwar geschult im Umgang mit dem Insulin, weiterführende Hilfe gebe es indes nicht. "Also habe ich nächtelang recherchiert", erzählt Kottwitz. Die Selbsthilfegruppe aber, so das Ziel, soll es den Betroffenen einfach machen: indem sie voneinander lernen, sich Tipps geben für die Ernährung oder in Versicherungsfragen, sich austauschen, wo es eine gut sortierte Apotheke gibt, passende Lebensmittel oder spezialisierte Ärzte.

Doch die beiden Initiatorinnen denken auch schon weiter, über das Lokale hinaus: "Mein Hauptanliegen ist eine intensive Vernetzung von Kliniken, Ärzten, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, anderen Institutionen und Betroffenen", sagt Kottwitz, denn nur so sei eine gute Unterstützung möglich. "Dann könnte man zum Beispiel einen Babysitterdienst einrichten, wo erwachsene Diabetiker auf erkrankte Kinder aufpassen", so eine ihrer Ideen. Schließlich hätten die nicht so viele Berührungsängste mit dem Thema.

Die nämlich sind das Problem bei der Kinderbetreuung: "Kitas und Schulen sind auf solche Fälle schlecht vorbereitet", sagt Mäusl, die selbst die Grundschule in Steinhöring leitet. "Ich kann verstehen, wenn Pädagogen Zweifel haben, ein Kind mit Diabetes zu betreuen, aber mit ein bisschen Willen kann das gut klappen." Das habe die Erfahrung gezeigt. Trotzdem ist es den beiden Ebersbergerinnen ein großes Anliegen, dass in Bayern auch offiziell entsprechende Schulungen für Erzieher und Lehrer angeboten werden - wie es in anderen Bundesländern bereits der Fall ist.

Wer sich für die Selbsthilfegruppe interessiert, kann per Mail an diakids-ebe@web.de Kontakt aufnehmen. Das nächste Treffen findet statt am Montag, 3. Juli, um 19.30 Uhr im Gasthof Huber in Oberndorf bei Ebersberg.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: