Süddeutsche Zeitung

Bildung:Was die Pandemie mit der Psyche gemacht hat

Mehr als zwei Jahre lang hat das Corona-Virus den Alltag von Schülerinnen und Schülern massiv beeinträchtigt. Sozialkontakte sind verschwunden, das Lernverhalten hat sich verändert, viele Pläne sind Makulatur geworden. Drei Schulpsychologinnen aus dem Landkreis berichten von ihren Eindrücken.

Von Merlin Wassermann, Ebersberg

Susanne Dorner-Ramlow bedient sich jener Metapher, die so gerne verwendet wird, um die Auswirkungen der Pandemie auf Schülerinnen und Schüler zu veranschaulichen: das Brennglas. Das Brennglas macht Verborgenes deutlich, in diesem Fall jene bestehenden Ungleichheiten, die durch die Krise deutlich zu Tage treten.

Dorner-Ramlow ist Schulpsychologin an der Grund- und Mittelschule Vaterstetten, seit nunmehr 16 Jahren. Sie hat hautnah miterlebt, wie die Pandemie diese Ungleichheiten in ihrer Klasse weiter verschärft: "Am Anfang der Pandemie konnten viele Schülerinnen und Schüler sowie deren Familien ihr etwas Positives abgewinnen: Man hatte frei und Zeit, sich in der Familie aufeinander zu besinnen."

Soziale Ungleichheiten und psychologische Verletzbarkeiten werden durch die Pandemie verschärft

Doch der Hype sei schnell verflogen. "Während des Lockdowns konnten viele Familien nicht ins Home-Office, die Kinder waren dann einen großen Teil des Tages allein und unbetreut zu Hause", erklärt die Psychologin. Die Berufe dieser Familien sind in der Regel weniger gut bezahlt, weswegen sie sich schlechter mit der Pandemie arrangieren konnten als wohlhabendere Familien. Sie haben weniger Wohnraum zur Verfügung, die Eltern mussten öfter in Kurzarbeit, was zu existenziellen Sorgen führte.

Marianne Lichnowsky, stellvertretende Schulleiterin und Schulpsychologin am Franz-Marc-Gymnasium in Markt Schwaben, bestätigt diese Einschätzung. Auf die Frage, wie schlimm es um die Schüler denn bestellt sei, sagt sie: "Schon schlimm." Auch sie betont, dass bereits bestehende Vulnerabilitäten durch die Krise noch verschärft würden. Neben sozio-ökonomischen Faktoren spielt dabei auch die individuelle, psychologische Verfassung der Schülerinnen und Schüler eine Rolle. "Wem es nicht gut ging, dem geht es jetzt schlechter. Doch auch insgesamt ist die psychologische Verfassung der Schüler geschwächt. Vor allem das Ausmaß der Angst ist gewachsen." Dies betreffe sowohl Lern- als auch Alltagssituationen.

Die sogenannten "Copsy"-Studien - Corona und Psychologie - die vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) durchgeführt werden, weisen in eine ähnliche Richtung. Im Februar dieses Jahres erschien die neueste der großangelegten Umfragestudien, aus der hervorgeht, dass sich acht von zehn Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie belastet fühlen - auch wenn die Tendenz dank der Schulöffnungen leicht rückläufig ist. Depressive Symptome, Angststörungen, Gereiztheit, Einschlafprobleme und Niedergeschlagenheit bewegen sich nach wie vor auf einem hohen Niveau.

Die lange soziale Isolation hat vielfältige Probleme nach sich gezogen

Die Gründe für die Probleme sehen beide Psychologinnen vor allem in den langen Lockdown-Phasen und der damit verbundenen sozialen Isolation. "Viele meiner Schüler sind in der Pubertät, das ist eine empfindliche Phase. Man braucht dort viel Rückmeldung von anderen, um seine Persönlichkeit entwickeln zu können", erklärt Lichnovsky. Doch auch jüngere Jahrgänge litten unter der Pandemie, können sich nach dem langem Lockdown oft nicht mehr richtig konzentrieren, "auch mal eine Stunde am Stück".

Gleichzeitig geht die stellvertretende Schulleiterin davon aus, dass viele Lücken wieder geschlossen werden können. Wenn man das Lernen verlernen kann, könne man es auch wieder lernen. Die Autoren der UKE-Studie gehen ebenfalls davon aus, dass die meisten Kinder und Jugendlichen gut durch die Pandemie kommen werden, mit stabilen Familienverhältnissen als dem ausschlaggebenden Faktor.

Susanne Dorner-Ramlow befürchtet hingegen, dass es aufgrund der Isolation bereits zu irreparablen Schäden in der mentalen Entwicklung vieler Schüler gekommen ist: "Das spielerische Erlernen von Sozialverhalten wurde ersetzt durch daheim im Zimmer sitzen und zocken, manchmal bis drei oder vier Uhr morgens." In vielen Fällen sei die Grenze zur Sucht nach Onlinespielen bereits überschritten.

In jedem Fall führten Computerspiele und soziale Medien höchstens zu "sterilen" Online-Sozialkontakten. Sie bieten nicht genug Möglichkeit, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Sie sieht hier auch Eltern in der Verantwortung, ihren Kindern im Bereich Medienkonsum Grenzen zu setzen. "Gleichzeitig müsste die Schule aber auch klipp und klar kommunizieren: So ein Verhalten ist schädlich." Hier gebe es auf allen Seiten Nachholbedarf.

Im Sonderpädagogischen Förderzentrum in Grafing ist die Situation weniger dramatisch

Anders gestaltet sich die Situation an der Johann-Comenius-Schule in Grafing, einem Sonderpädagogischen Förderzentrum. Angela Paulini arbeitet dort seit etwa zwei Jahren als Schulpsychologin. "Unsere Lehrer und Lehrerinnen sind ohnehin sehr nah dran an den Schülern, wir haben auch individuelle Lernpläne und auch die Eltern sind es gewohnt, ihre Kinder bei den Hausaufgaben zu unterstützen", sagt Paulini. Dementsprechend kamen und kommen die Schule und die Schüler mit der Pandemie und dem Lockdown verhältnismäßig gut zurecht.

Probleme bereiteten lediglich Dinge wie die Maskenpflicht, da gehörlose Kinder die Mimik der Lehrer oder ihrer Mitschüler nur noch schwer entziffern konnten. Auch die Feinmotorik und der soziale Umgang ihrer Kindergartenkinder sei weniger eingeübt. Sorgen um Langzeitfolgen macht sie sich allerdings keine. "Mir ist es vor allem wichtig zu betonen, dass die Menschen in der Pandemie - Schüler, Lehrer und Eltern - viel durch ihren Zusammenhalt geleistet haben."

Die Stärkung der sozialen Kontakte unter den Schülern ist jetzt die wichtigste Aufgabe

Alle drei Schulen und ihre Psychologinnen standen natürlich nicht nur daneben und haben zugeschaut, was mit ihren Schutzbefohlenen passiert. Lichnovsky gibt zu, dass "am Anfang alle überrollt" wurden. Man habe aber versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Neben psychologischer Betreuung - die hauptsächlich von Mädchen in Anspruch genommen wird - stünden nun Fördermittel zur Verfügung, die außercurricularen Aktivitäten und unterschiedlichen Formen des Wahlunterrichts zugute kommen sollen. Dadurch soll insbesondere die soziale Integration der Schüler wieder gestärkt werden. Lichnovsky ist zuversichtlich, dass man die Situation dadurch wieder in den Griff bekommt.

Auch Susanne Dorner-Ramlow sieht Beziehungsarbeit als wichtigsten Teil der Aufarbeitung der Pandemiefolgen, beispielsweise durch Betroffenenkreise. "Es gilt, milde zu sein, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, damit die Schüler merken, jemand interessiert sich für sie." Dazu gehöre es auch, bei der Benotung vorsichtig zu sein, keine zu schlechten Noten zu vergeben. Versagensängste und der Leistungsdruck seien eng an diese gekoppelt.

"Oft haben die Schüler mehr Angst vor der Reaktion der Eltern als der Lehrer"

Trägt das Schulsystem selbst also eine Mitschuld an der Heftigkeit der Pandemieauswirkungen auf die Psyche der Schüler? Sollte gar darüber nachgedacht werden, Noten aus der Schule zu verbannen und den sozialen Aspekt der Institution in den Vordergrund zu kehren? Marianne Lichnovsky ist da skeptisch. "Sicherlich ist uns jetzt allen sehr klar geworden, dass Schule mehr bedeutet als nur Lernen und Noten", sagt sie. "Aber oft haben die Schüler gar nicht so viel Angst vor der Reaktion der Lehrer bei einer schlechten Note, sondern vor der der Eltern." Noten abzuschaffen würde da zu kurz greifen. Lichnowsky ist überzeugt, dass eine Rückkehr zum Normalzustand möglich und wünschenswert ist.

Susanne Dorner-Ramlow sieht das anders. Sie will keine Wiederherstellung des vorherigen Status Quo. Stattdessen hofft sie, dass in Zukunft Lernen mehr mit Wohlfühlen zu tun haben könnte, dass Bindung ein ebenso wichtiger Platz eingeräumt werden könnte wie Wissenserwerb. "Der Lehrerverband fordert schon lange zwei Pädagogen pro Klasse, aber dafür braucht es Geld. Wir als Gesellschaft müssen uns jetzt daran messen lassen, was wir für Schule und Bildung lockermachen. Es geht nicht mehr nur darum, Mathematik oder Sprachen zu vermitteln, sondern auch, wie ich es aushalte, Mensch zu sein."

Die Schule ist ebenso sehr ein Ort des sozialen Miteinanders wie des Wissenserwerbs

Die Chance des Brennglases als Lupe ist es, Dinge, die man direkt vor der Nase hat, sichtbar zu machen - auch, wenn man sie schon tausendmal gesehen hat. Es ist ein alter Hut, darauf hinzuweisen, dass nur bedingt Chancengleichheit zwischen Schülern unterschiedlicher Herkunft besteht und dass sich damit verbundene psychologische Vulnerabilitäten in Krisenzeiten besonders bemerkbar machen. Der Grad der Verbrennung hängt ab vom verfügbaren Schatten. Geld, Platz und ein Mangel an psychischen Vorerkrankungen in der Familie spenden eine Menge davon.

Auch mit entgrenztem Medienkonsum wird schon lange gerungen, ebenso wie mit der Frage der Leistungsnachweise in der Schule. Welche Lehren aus der Pandemie letztendlich gezogen werden sollten, wird in der Wissenschaft ebenso heiß diskutiert werden wie am Küchentisch. Nur eines ist über die vergangenen Jahre allen klar geworden: Die Schule ist ebenso sehr ein Ort des sozialen Miteinanders wie einer der Wissensvermittlung. Manchmal sind die banalsten Feststellungen die wirkmächtigsten.

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