Politische Debatten und Gesetzesinitiativen sind Dinge für Erwachsene und ohnehin ganz weit weg, in Berlin oder bestenfalls München? Das sieht die Elftklässlerin Gamze Sel aus Markt Schwaben anders. „Politik ist so wichtig, da sollte sich jeder Jugendliche engagieren. Es geht um unsere Zukunft und dafür sollten wir etwas tun.“ Genau deshalb hat sich die 18-jährige Schülerin des Franz-Marc-Gymnasiums, ermuntert von ihrer Lehrerin, ein Praktikum bei Doris Rauscher gesucht. Seit 2013 sitzt die Sozialdemokratin aus Ebersberg im bayerischen Landtag, ist Stellvertretende Vorsitzende sowie Sozial- und Familienpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Vorsitzende des Sozialausschusses und Mitglied der Kinderkommission.
Schon häufiger hatten dank Rauscher Schülerinnen und Schülern die Chance, den Berufsalltag einer Abgeordneten mitzuerleben – selbst wenn die Einbindung eines Praktikanten immer auch mit Arbeit verbunden ist. Doch die investieren Rauscher und ihr Team gern: „Diese eine Woche politischer Bildung in Höchstform hat einen großen Wert für die Demokratiebildung“, sagt sie. Was wichtiger sei denn je, insbesondere vor dem Hintergrund des Rechtsrucks bei jungen Menschen, der sich bei den jüngsten Wahlen gezeigt habe.

Ihre Sorge angesichts der Zunahme „rechts motivierter Fälle“ nennt auch Gamze Sel auf die Frage nach den Gründen für ihr politisches Interesse. Wiewohl ihr Urgroßvater bereits in den Sechzigerjahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und ihr Vater 1981 sogar in München geboren worden sei, müsse sie zuweilen immer noch ihre Herkunft als Deutsche rechtfertigen. Doch von Vorurteilen lässt sich die sympathische junge Frau nicht beeinträchtigen. Gamze Sel macht den Mund auf und setzt sich ein – für sich und für andere, etwa im Projekt „Offenes Haus“.

Integration im Landkreis:Schulfach Herzensbildung
In Markt Schwaben arbeiten das Gymnasium und die Mittelschule schon lange eng zusammen. Über den Erfolg einer Kooperation mit teils erstaunlichen Auswirkungen.
Seit diesem Jahr ist Gamze Sel auch deshalb Schülersprecherin, weil ihr selbst früher ein „Role Model mit Migrationshintergrund“ gefehlt habe. Zudem sieht sie ihren Auftrag im Einsatz für soziale Themen. Denn um die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, wenn es etwa um die Wohnungssuche oder die ungleiche Bezahlung von Frauen geht, wisse sie als Tochter einer alleinerziehenden Mutter sehr gut. „Man ist gleich viel wert, auch wenn man nicht so viel Geld hat.“
Mit dieser Haltung ist die eloquente Schülerin also bestens gewappnet für die Zeit mit Sozialpolitikerin Rauscher. Denn diese ermöglicht den Hospitierenden nicht nur einen Blick hinter die Kulissen ihres Landtagsbüros und nimmt sich Zeit für den direkten Austausch, sie lässt sich auch zu Terminen begleiten.
Als es um eine Onlineplattform geht, wird die 18-Jährige sogar als Expertin gehört
Neben der Plenarsitzung sind dies Treffen in Arbeitskreisen und Ausschüssen, bei denen auch die Praktikantin nach ihrer Meinung gefragt wird. Ein Höhepunkt sei es gewesen, berichtet Gamze Sel, wie man ihr in der AG Frauen zugehört habe, als sie über Femizide in Deutschland, den Gender Pay Gap oder die kulturellen Unterschiede, die sie als Türkin mit kurdischen Wurzeln erlebe, gesprochen habe. Im Arbeitsforum Soziales, Bildung und Gesundheit wiederum habe sie sich sogar quasi als Expertin äußern dürfen: über Tiktok, wo sich ja überwiegend Jugendliche tummeln und die 18-Jährige sich recht gut auskennt.
Unerwartet für die Elftklässlerin, die gern liest – „Anna Karenina“ oder „Krieg und Frieden“ ebenso wie leichtere Kost – und E-Gitarre spielt, war, „dass Abgeordnete nicht wirklich abgehoben sind“. So das Fazit aus ihrem engen Kontakt mit Rauscher, aber auch Ergebnis eines Mittagessens mit dem früheren SPD-Fraktions- und Landesvorsitzenden Florian von Brunn. Außerdem habe es sie wirklich überrascht, wie viel im Hintergrund passiert, bevor es zu politischen Entscheidungen kommt, und „wie schwierig es ist für eine Partei, die nicht die Mehrheit hat, ihre Anträge durchzukriegen“.

Inhaltlich am meisten hängengeblieben ist bei Gamze Sel die Vorbereitung einer Sitzung der mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Parteien besetzten Kinderkommission (KiKo), ein Forum, über das nur wenige Länderparlamente verfügen. In der Sitzung ging es um „Kinder mit Eltern im Strafvollzug“. Es sei sehr wichtig, betroffenen Familien regelmäßig Kontakt zu ermöglichen, findet die 18-Jährige.
„In der KiKo befassen wir uns mit Nischenthemen“, erläutert Rauscher. Denn auch wenn es „gar nicht so wenige“ Mädchen und Buben in Bayern gebe, deren Mütter oder Väter in einer JVA einsitzen, handle es sich insgesamt doch eher um eine Randgruppe. Doch gerade diese benötigten jemanden, der sich für sie einsetze. Das tue die KiKo, die sich erst mithilfe von Expertise aller Art ein umfassendes Bild mache und dann versuche, fraktionsübergreifend eine Haltung zu finden, erklärt Rauscher. Im Idealfall entstehe daraus ein gemeinsames Positionspapier, das dann an die entsprechenden Ministerien übergeben und in der Öffentlichkeit vorgestellt werde.
Zum Thema Bildung verfasst Gamze Sel ein kleines Gedicht, das Rauscher bei einer Tagung vortragen wird
Gewissermaßen als Krönung ihrer Hospitanz durfte Gamze Sel zwar kein ganzes Papier, aber doch ein „kleines Statement“ verfassen, das Rauscher bei einer Bildungstagung im Mai vortragen wird – natürlich unter Nennung der Urheberschaft. Gewünscht war ein „kreativer Beitrag“, weswegen Gamze Sel ein Gedicht mit drei Strophen geschrieben hat. „Bildung öffnet Türen und kennt kein Alter. Sie vereint die ganze Gesellschaft als Schlüssel zur Zukunft. Darum sollten wir es schätzen, in einem Land zu leben, in dem sie jeder genießen kann“, so kann man den Inhalt zusammenfassen.
Reife Worte und Überlegungen für eine 18-Jährige, die Rauscher als „sehr offen, sehr interessiert und sehr wach“ erlebt hat, als Person, die sich unglaublich schnell ins Team integriert habe und die sie zusammenfassend als „tolle, junge Frau“ bezeichnet. Was die Politikerin darin bestärkt, auch künftig aufgeschlossen für Praktikumsbewerbungen aus dem Landkreis Ebersberg zu sein.
Gamze Sel selbst wiederum ist angesichts der Erfahrung bei Rauscher überglücklich. „Das, was man da lernt, kann man an anderen Orten nicht lernen.“ Sogar selbst in die Politik zu gehen, könnte sie sich vorstellen, „wobei ich aber auch gesehen habe, dass man sehr viel Glück haben muss, um reinzukommen und wirklich was bewirken zu können.“ Bis zum Abitur ist dank G9 zwar noch Zeit – eine Doku über das Jurastudium hat die Gymnasiastin sich aber neulich schon mal angesehen.