Schrottgalerie Glonn:Blutiges Experiment

Das "Sendlinger Revolutionsensemble"erzählt und singt von der gescheiterten Revolution 1919

Von Ulrich Pfaffenberger, Glonn

Sendlinger Revolutionsensemble in Schrottgalerie

Lyrisch und eindringlich erzählt das "Sendlinger Revolutionsensemble" in Wort und Musik von den Geschehnissen des Jahres 1919.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Nach hundert Jahren kann man schon mal anfangen, über die Ereignisse von "damals" zu singen. Als Revolution war in Bayern 1919, die "Räte" das Regieren versuchten und die vermeintlich gute alte Ordnung sich in der Nachkriegszeit in vermeintlich schlechte neue Unordnung wandelte. Nicht nur in Bayern ist das eine bewährte und gepflegte Tradition. Rund um den Erdball und durch die Jahrtausende haben es die Menschen so gehalten und Helden wie Schurken eine Melodie gegeben. Man denke an Odysseus, man denke an Jennerwein, an Wilhelm Tell.

Mit Einzelpersonen aber, das machte am Freitag in der Schrottgalerie das "Sendlinger Revolutionsensemble" deutlich, ist kein Umsturz zu machen, dafür braucht es ein Kollektiv. Wie sich im Verlauf des Abends herausstellte, fehlte es dafür vor hundert Jahren in Bayern an der Gemeinsamkeit in ideologischen und strategischen Grundlagen. Die "Reaktion" oder die "Bourgeoisie" als Feindbild reichten nicht aus, um die Kräfte zu bündeln. Selbst der Mord an Kurt Eisner, der Bayern zum Freistaat gemacht und diesen als erster Ministerpräsident geführt hatte - reichte nicht, die widerstrebenden Interessen hintanzustellen, dem größeren Ziel zuliebe.

Nicht Historiker sondern Künstler sind die Quelle

Anders als herkömmliche Geschichtsschreiber hat das Ensemble sein Material nicht aus amtlichen Berichten zusammengetragen. Sie haben als Quelle die Dokumente jener Berufsgruppe angezapft, die in großer Zahl die revolutionären Kreise jener Zeit füllte: Dichter und Literaten. Hier finden sich jene Anekdoten, Beobachtungen und Wertungen, in denen die menschliche - und die unmenschliche - Seite der Revolution sichtbar wird. Allein schon das Verlesen jenes Telegramms Lenins an die Münchner Räterepublik lässt einen schaudern, vordergründig eine Gratulation, in der Substanz jedoch ein Katalog an Kommandos, getarnt als Bitte, man möge "uns häufiger und konkreter mitteilen, welche Maßnahmen Sie zwecks Bekämpfung der bürgerlichen Henker, der Scheidemänner und Kompanie durchgeführt haben". Da waren schnell Verfehlungen herauszulesen, die über Nacht einen aufrechten Revolutionär zum Verräter stempelten.

Im Kontrast dazu die Zeitzeugen und Beobachter, die in ihren Schriften festhielten, was sich zwischen Schein und Sein abspielte. Oskar Maria Grafs Aufzeichnungen dürfen da nicht fehlen, zu Recht aber reiht ihn das Ensemble ein in eine bunte, oft gegensätzliche Vielfalt der Ansichten. So lernt das Publikum scharfsinnige Beobachtungen Rainer Maria Rilkes kennen oder die lakonischen Aufzeichnungen des konservativen Gymnasiallehrers Josef Hofmiller, der zur wuchernden Lust an gegenseitigen Anschuldigungen notiert: "Alle Tage gleich schwachsinnig." Er hegt nachhaltige Zweifel an den Gerüchten, die Menschen aufrühren sollen, und denen es - Vorläufer der Fake News - an Nachprüfbarkeit mangelt: "An einem Ort wurden..." oder "Ein Leutnant der Weißen habe..."

Fantasten, Dichter und irrlichternde Gestalten

Wir begegnen auch einem unverblümt frechen Ernst Toller, vorübergehendes Staatsoberhaupt der Räterepublik. Der macht sich im Chaos von durcheinanderpurzelnden Regierungen über die Sorge entlassener Minister lustig, ob sie jetzt wohl pensionsberechtigt seien. "Jeder denkt, die Räterepublik sei geschaffen, um seine eigenen Wünsche zu erfüllen", stellt er fest, amüsiert sich über einen Dr. Lipp, seinerzeit so etwas wie bayerischer Außenminister, der verquaste Telegramme an alle Welt und den Papst schickt und schließlich in der Psychiatrie landet. Fast möchte man wünschen, diese Regierung aus Fantasten, Dichtern und irrlichternden Gestalten hätte diese gewalttätigen sechs Monate überlebt. Vielleicht wäre ein weiteres Neuschwanstein herausgekommen.

So aber endet das Experiment in Blut. "Die Zeit läuft quer, der Tod säuft Blut" singt Johanna Weiske in einem der zwölf Lieder, die mehr sind als Soundtrack zum Kino im Kopf, das die von Dominik Frank unaufgeregt, aber pointiert vorgetragenen Texte auslösen. Jakob Greithanner an Bass und Gitarre, Andreas Porsch an Klarinette und Querflöte, David Rösner am Schlagzeug sowie Thomas Schneider an Gitarre und Mandoline gestalten mit der zwischen provokant und lyrisch balancierenden Sängerin eigene Erzählungen, aufbegehrend oder schmerzerfüllt, antreibend oder niedergeschmettert, schöpferisch oder zerstörerisch. Sie singen ein Wiegenlied voller Schrecken, von der Mutterbrust zum Heldentod. Sie singen vom Beschluss "unser schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod". Sie singen "Schauer um Schauer jagt übers Land" und zeigen, dass vieles von dem, was Menschen aus der Geschichte nicht lernen wollen, wie das Wetter wiederkommt. "Zahlreiche Gläubige, die urteilslos Opfer eines Schandmauls wurden" sind keine singuläre Erscheinung von 1919. Hundert Jahre später, in der Schrottgalerie, ist der ehrliche Applaus des Publikums auch von dieser Erkenntnis durchdrungen.

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