Manchmal sind es Zufälle, die dabei helfen, ein Bild zu vervollständigen. Die Überraschung bei Hans Obermair ist groß, als er ein bis dato unbekanntes Foto von Lena Christ in den Händen hält. Wie so oft hat jemand aus Glonn nach dem Tod eines Angehörigen dessen Dokumente und Fotos bei dem Ortschronisten vorbei gebracht, unter anderem eine vergilbte Schwarzweiß-Aufnahme von 1892/93. Sechzig Jungs und Mädchen schauen darauf ernst in die Kamera, mittendrin die Lehrer Alexius Strauß und Johann Schuster. Als Obermair das Foto genauer untersucht, fällt ihm auf, dass es in die Zeit fällt, als Lena Christ, zurück aus München, weg von der gewalttätigen Mutter, wieder ein Jahr bei ihren Großeltern in Glonn verbringt und dort die Schule besucht. Tatsächlich weist eines der Mädchen, in der Mitte der ersten Reihe, frappierende Ähnlichkeit mit der späteren Autorin der "Rumplhanni" auf: ein stolzer, trotziger Blick, verschlossene Gesichtszüge.
"Das Bild sagt viel über ihr ganzes Wesen aus", sagt Obermair. "Sie war schöner angezogen als die anderen, ihr Blick ein bissl gereifter, das andere sind alles Bauernkinder." Auf einem anderen Foto, das Obermair zeigt, ein paar Jahre später, hat Lena Christ immer noch denselben trotzigen Blick, ein bisschen hochmütig vielleicht, rätselhaft schön. "Des Gscheiderl", habe man früher abwertend zu Frauen gesagt, die klug waren und das auch wussten, erzählt Obermair. Und genau als solch ein Gscheiderl zeige sie sich auf diesen Bildern. "Der Lehrer Alexius Strauß hat später einmal gesagt, solche Aufsätze wie die von der damals elfjährigen Lena Christ seien ihm noch nie untergekommen."
Wohl kaum eine Frau der bayerischen Literatur ist so schwer zu fassen wie Lena Christ, deren Todestag sich nun, am 30. Juni, zum hundertsten Mal jährt. Kindfrau, Femme Fatale, Lausdirndl, Heimatdichterin - es ist schwierig, die verschiedenen Facetten der gebürtigen Glonnerin zusammen zu puzzeln und ein kongruentes Bild zu erhalten. Für die einen war sie das ewige Bankert, das uneheliche Kind, das seine ersten Lebensjahre bei den Großeltern mütterlicherseits in Glonn verbracht hat - eine paradiesische Zeit, verglichen mit den von Gewalt und Armut geprägten Jahren danach in München, von denen sie in ihrer Autobiografie "Erinnerungen einer Überflüssigen" erzählt. Später wurde sie von den Literaturkritikern in den Himmel gelobt: Für die Einfachheit und Direktheit ihrer Erzählungen, ihre intuitive Herangehensweise, rühmte der Lehrer und Essayist Josef Hofmiller sie schon bald nach ihrem Tod. Der Grafinger Autor Michael Skasa, dessen geplante Lena-Christ-Lesung bislang wegen Corona nicht stattfinden konnte, begeistert sich für die Lebendigkeit und Spontaneität ihres Fabulierens.
Wer war Lena Christ, auch "Hansschusterleni" genannt? Wovon träumte sie, was prägte sie? Wer heute auf Spurensuche geht, tut dies am besten mit Hans Obermair, der sich seit Jahrzehnten mit der Autorin beschäftigt. Auch wenn das Verhältnis zu ihrem Heimatort Glonn ein ambivalentes ist, hat man sie hier nicht vergessen. An vielen Ecken kann man heute noch dem Geist kurz vor der Jahrhundertwende nachspüren, den Lena Christ in ihren Erzählungen und Romanen einzufangen versucht.
Ihr Leben beginnt 1881 unter ungünstigem Stern: Ihre Mutter, zu dieser Zeit Köchin in Zinneberg bei Glonn, ist bei der Geburt nicht verheiratet, bis heute ist die Frage nach dem Vater nicht vollends beantwortet. Das Taufbecken, in dem die geborene Magdalena Pichler ihr erstes Sakrament erhält, ist heute noch in der Glonner Kirche zu sehen. "Eigentlich wurden uneheliche Kinder immer vom Kaplan getauft", erklärt Obermair. Weil jedoch der Großvater von Lena Christ ein angesehener Bürger war - ein Tausendsassa, wie Skasa ihn nennt - vollzog wohl ausnahmsweise der Pfarrer die Taufe. Obermair verweist auch auf den Balkon der Kirche, von dem man auf den Altar hinabschauen kann: Hierher stellt Christ in "Madam Bäuerin" die Nonnen, als Franzl und Rosalie sich das Jawort geben. Vor der Kirche liegt Christs Lehrer Alexius Strauß begraben, der schon früh ihr Talent zum Erzählen entdeckte.
Die nächsten Schritte führen zur St.-Johannes-Straße, heute eine idyllische Gasse durch ein Wohnviertel. Da entlang ist Lena Christ wohl zur Schule gegangen; hier gab es viele Gaststuben, Schuster und Schneider, erzählt Obermair und verweist auf das Wagner-Anwesen, einen ehemaligen Orgelbauer. Nicht weit weg steht das Geburtshaus der Autorin, in der heutigen Lena-Christ-Straße. Eine von Rosen umrankte Gedenktafel erinnert dort an sie. Ein Blick in den Garten gibt den Blick auf die Glonn frei, ein kleines Bächlein, an dem Christ in ihrer Kindheit wohl oft gespielt hat. "Und da stand das Bader-Anwesen", sagt Hans Obermair und zeigt auf das Nachbargrundstück. In einer Episode der "Lausdirndlgeschichten" klaut die Protagonistin die Blutegel des Baders Gschwandler, der damit so allerlei Wehwehchen kuriert. Weil ein Kalb nicht mehr fressen will, behandelt es die Protagonistin auf eigene Faust mit den Egeln. Die Großeltern rätseln über die Herkunft der saugenden Tierchen, sind sich aber sicher, dass der Bader die Egel nicht freiwillig hergegeben hat. Das Kalb jedoch, so endet die Geschichte, hat danach wieder gefressen.
Weil Christ in den "Lausdirndlgeschichten" viele honorige Glonner veräppelt, so Obermair, habe sie lange Zeit einen fragwürdigen Ruf in der Gemeinde genossen. In seinen Betrachtungen zum 125. Geburtstag der Autorin schreibt der Ortschronist, dass es früher in Glonn als Tadel für unfrisiertes Auftreten den Ausspruch gab: "Kimmst ja daher wias Hansschusterlenei!" Und weil Christ es manchmal mit der Wahrheit nicht so genau nahm in ihren Geschichten, galt sie vielen als Lügnerin. Laut Skasa glaubte man damals auch nicht, dass ein Kleinbauernmädchen so dichten konnte - und schrieb ihre Erzählungen ihrem zweiten Ehemann Peter Benedix zu, einem Schriftsteller. Dass es dann doch relativ bald nach Christs Freitod im Jahr 1920 eine Gedenktafel für sie in ihrer Heimatgemeinde gab, ist wohl vor allem Franz-Paul Lang zu verdanken, einem blinden Architekten, der damals im Baderanwesen lebte. Die Gedenktafel ist auf 1921 datiert, wurde aber erst 1923 aufgehängt - ein Zeichen dafür, so Obermair, dass man sie zuerst in Glonn nicht haben wollte.
Schräg gegenüber vom Geburtshaus der Lena Christ steht der Neuwirt, erbaut 1862, der heutige Bürgersaal - ein prächtiges, großes Gebäude. Im Nebenraum wurde das Lena-Christ-Stüberl eingerichtet, in dem früher Andenken an die gebürtige Glonnerin ausgestellt wurden. Heute ist ihr ein Raum im Heimatmuseum gewidmet. "In dem Neuwirt-Stüberl wurden oft Hochzeitsfeiern abgehalten", erzählt Obermair. "Die Fenster standen offen, man hörte die Menschen singen, sah sie tanzen." Hier habe sich die Autorin wohl Anregungen geholt für Hochzeitsszenen wie in ihrem Roman "Mathias Bichler".
Die Hausnummer von Lena Christs Geburtshaus war früher die 38. In der "Rumplhanni" schreibt die Autorin über ihre Mutter, die auch mal ins Gefängnis musste, erzählt Obermair - so wie übrigens Lena Christ selbst auch zweimal - und gibt ihrer Mutter die Häftlingsnummer 38. Zufall? Daran glaubt Obermair nicht. Ein paar Gehminuten weiter, Richtung Kirche, erstreckt sich ein Areal mit Kindergarten, Pfarrsaal und Bibliothek. Ab 1842 sei der Pfarrstadel hier gewesen, erzählt Obermair. "Da hat der Pfarrer auch seine Obstbaumwiese gehabt, von der Lena Christ als Kind Äpfel geklaut hat." In ihren Erinnerungen heißt es dazu: "Später einmal traf mich der Herr Pfarrer und sagte: ,Liebes Kind, ich hätte dir ganz gern einen Apfel geschenkt, wenn du mich darum gebeten hättest. Aber selbst aufheben durftest du dir keinen; denn das nennt man Stehlen.'"
Manche von Lena Christs Erinnerungen stimmen indes nicht mit dem überein, was Heimatforscher Obermair in akribischer Kleinstarbeit recherchiert hat. So beschreibt sie in ihrer Autobiografie siamesische Zwillinge, die ihrer Großmutter als Kostkinder übergeben worden seien. Davon jedoch, so Obermair, sei nirgendwo etwas zu lesen, in keinem Archiv, keiner Zeitung dieser Zeit. Dabei wäre solch ein Fall in Glonn eine Sensation gewesen. Er vermutet, dass Christ die Geschichte der ersten siamesischen Zwillinge, von zwei 1874 verstorbenen Brüdern aus Asien, irgendwo aufgeschnappt, verinnerlicht und hinzugedichtet hat.
Kurz vor dem Abschied erzählt Hans Obermair, dass vor mehr als 15 Jahren die Journalistin Evita Bauer für ihren prämierten Film "Lena Christ. Heimat und Sehnsucht" auch in Glonn eifrig recherchiert habe. Als sie dazu einmal den ortskundigen Obermair anrief, ging seine Enkelin an den Apparat und plapperte angeregt mit der Filmautorin. Bauer war sofort begeistert von der aufgeweckten kleinen Dame, just wurde diese für die Dokumentation engagiert, wo sie dann die Rolle der jungen Lena Christ übernahm. Obermair ist sichtlich stolz darauf.
Und so ist Lena Christ, die "Überflüssige", auch hundert Jahre nach ihrem Tod nicht nur unvergessen. Wer sich auf ihre Spuren begibt, findet die einer eigenwilligen, immer ihrer Heimat verbundenen jungen Frau vor. Immer wieder wird sie als erwachsene Frau nach Glonn zurückkehren, den Dorfbewohnern um die Jahrhundertwende ein literarisches Denkmal setzen. Oder, wie Michael Skasa es etwas wehmütig beschreibt: "Heimat wird immer dann entdeckt, wenn sie verloren geht oder schon verloren ist."
Das Meta Theater Moosach und der Kulturverein Glonn haben den Samstag, 27. Juni, zum Lena-Christ-Tag ausgerufen: "Auf den Spuren von Lena Christ" ist das Motto eines Spaziergangs mit Biografin Gunna Wendt und Ortchronist Hans Obermair von 14 bis 16.30 Uhr, Treffpunkt ist am Heimatmuseum, Klosterweg 7, in Glonn. Die Teilnahme ist kostenlos, es wird um Spenden gebeten. Abends, um 20 Uhr, Juni findet im Meta Theater, Osteranger 8, eine Lesung mit Gunna Wendt zum Thema "Lena Christ, die Glückssucherin" statt. Der Eintritt kostet 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Weitere Infos gibt es per Mail an info@meta-theater.com oder unter (08091) 35 14 beziehungsweise bei Jutta Gräf vom Kulturverein unter (08093) 90 97.