Stillstand ist für die Menschen auf Schloss Zinneberg vermutlich eher ein Fremdwort. Das Anwesen hoch über Glonn nämlich ist nicht nur ein Kloster, sondern in erster Linie eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe – und als solche stetem Wandel unterworfen. Nicht nur, dass immer wieder neue junge Menschen hier Schutz und Führung suchen, nein, auch auf gesellschaftliche Veränderungen, sprich: Notlagen, müssen und wollen die Verantwortlichen reagieren. Und manchmal ist es auch einfach der Zahn der Zeit, der seinen baulichen Tribut fordert.
Bei all den Veränderungen ist es den Schwestern vom Guten Hirten aber ein Anliegen, immer wieder an die inhaltlichen Wurzeln, an die lange Tradition ihrer sozialen Einrichtung zu erinnern. Deswegen gibt es jetzt auf Schloss Zinneberg nicht nur ein neues Gebäude, sondern überdies ein neues Kunstwerk zu bewundern.

Lang ist die Liste der Einrichtungen und Programme, die Zinneberg unter Trägerschaft des Ordens anbietet, von einem Heilpädagogischen Heim für Mädchen und Frauen über Krisenintervention für Familien bis hin zu einer Berufsschule. Und nun gibt es wieder mal ein neues Gebäude: Das Förderzentrum, die Mittelschule von Schloss Zinneberg, musste umziehen.
Bisher nämlich war sie untergebracht in der sogenannten Orangerie, einem ehemals hochherrschaftlichen Gewächshaus. Dieses aber sei baufällig und entspreche nicht mehr den aktuellen Standards, erklärt Schwester Christophora Eckl, die Leiterin der Jugendhilfeeinrichtung. Eine Sanierung sei indes nicht infrage gekommen, da die Orangerie unter Denkmalschutz stehe. „Da wäre ein Umbau viel zu teuer.“ Deswegen habe man die Klassenzimmer dort nicht mehr weiter betreiben können. Doch zum Glück gibt es auf Schloss Zinneberg sehr viel Platz – sodass einem Neubau zumindest in dieser Hinsicht nichts im Wege stand.

Und in anderer Hinsicht offenbar auch nicht. „Wir pflegen einen sehr guten Kontakt zur Regierung von Oberbayern“, sagt Schwester Christophora und lächelt. Insofern sei die Genehmigung kein Problem gewesen. Außerdem konnte Schloss Zinneberg sich über großzügige finanzielle Unterstützung freuen: Renate Schimmer-Wottrich, Seniorchefin der Firma Truma und Gründerin einer gleichnamigen Stiftung, fördert das Engagement der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung seit Jahrzehnten.
Die Unternehmerin lebte viele Jahre in Glonn und verbindet manch schöne Erinnerung mit Zinneberg. Augenzwinkernd erzählt sie: „Ich habe mir hier als Kind die ersten Pfennige verdient, als ich für den Glonner Förster im Schlosspark, unerlaubt natürlich, Kastanien sammelte.“ Ihr unermüdlicher Einsatz für die Jugendhilfe war nun Anlass, das neue Förderzentrum „Renate-Schimmer-Wottrich-Campus“ zu nennen und den Namen groß an dem Gebäude anbringen zu lassen – „weithin sichtbar, als Zeichen für gelebtes Interesse am Gemeinwohl“, sagt Schwester Christophora.

Worum genau es auf Schloss Zinneberg geht, verdeutlicht nun aber besonders ein neues Denkmal, das man sich „ganz bewusst geleistet“ habe, wie die Leiterin sagt. Der Glonner Bildhauer Hanno Größl bekam von den Schwestern vom Guten Hirten den Auftrag, ihren Leitgedanken zu visualisieren. Er lautet: „Ein Mensch ist mehr wert als die ganze Welt“ und geht zurück auf die Ordensgründerin Maria Eufrasia Pelletier (1796 bis 1868).
Die Französin sei eine höchst faszinierende und inspirierende Persönlichkeit, schwärmt Schwester Christophora. „Sie besaß Mut zu Visionen und Realitätssinn zugleich.“ Ihre Weitsicht, ihre fortschrittlichen pädagogischen Ideen, ihre unternehmerischen Fähigkeiten und vor allem ihr Vertrauen in die Menschen seien bis heute ein großer Ansporn für alle Schwestern, Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen auf Schloss Zinneberg. „Sie war eine modern denkende Frau, die ein weltweites Unternehmen gegründet hat. Da ist nix mit Weihrauch und Mottenkugeln“, sagt die Chefin und lacht. Maria Eufrasias Hauptaugenmerk galt besonders Mädchen und Frauen in Notsituationen – über Grenzen hinweg. Bei ihrem Tod 1868 gab es 110 Häuser ihrer Gemeinschaft weltweit.
Zinneberg wurde bereits 1000 nach Christus urkundlich erwähnt, namhafte Adelsgeschlechter prägten das Schloss und seine Umgebung. 1927 wurde es von den Schwestern als Außenstelle der Münchner Ordensniederlassung erworben. Die dazugehörigen Ländereien sicherten den Lebensunterhalt der zu betreuenden Kinder und Jugendlichen. „Es geht darum, junge Menschen durch Bildung, Ausbildung und Erziehung zu einem selbstbestimmten, verantwortungsbewussten Leben und zur gesellschaftlichen Teilhabe zu begleiten“, erklärt Schwester Christophora. Mehr als hundert Mitarbeiter kümmerten sich um mehr als 250 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Das Kloster wird bewohnt von vier älteren Schwestern, „die uns täglich Gebete rüberschicken“.
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Die Leiterin von Zinneberg versteht ihre soziale Einrichtung als Unternehmen, in dem effizientes Denken notwendig sei. Trotzdem halte sie es für wichtig, das Wesentliche, sprich: die Ideale des Ordens, nicht aus den Augen zu verlieren. „Maria Eufrasia hatte vor allem unerschütterliches Vertrauen in einen freundlichen Gott, der wie ein Hirte für uns sorgt.“ Und dies sei auch der Auftrag an die Menschen: „Sich symbolisch als Hirte oder Hirtin zu verstehen meint, den anderen als ganzheitliche Persönlichkeit zu sehen und ihm so zu begegnen, dass er sich seines Wertes und seiner Würde bewusst werden kann.“
Schwester Christophora spricht von „seelischen Slums“, in denen sich viele Menschen befänden
Das sei gerade in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe absolut notwendig – wenngleich nicht immer einfach. Schwester Christophora spricht von „seelischen Slums“, in denen sich viele junge Menschen befänden, in Zuständen der inneren Verarmung. „Diese Slums können Orientierungslosigkeit, Angst, Mutlosigkeit, Aggression, Depression, Gier, Gewalt, Überforderung, Vereinsamung und viele andere Namen tragen.“
All diesen Arten der Armut stellten sich die Kolleginnen und Kollegen Tag für Tag. Dabei ernteten sie aber oft kein freudiges Hallo, geschweige denn einen Dank, denn: „Die Slum-Bewohner können diesen Einsatz oft nicht gleich als Mehrwert anerkennen.“ Trotzdem hörten die Mitarbeitenden nicht auf, zu hoffen. „Sie unterstützen, fördern, heilen, verstehen, trösten, ermuntern, fordern und begrenzen. Und vor allem vertrauen sie darauf, dass jeder Mensch in sich eine einmalige Würde trägt, die mehr wert ist als die ganze Welt.“ Diese ans Licht zu bringen, das sei der Auftrag von Schloss Zinneberg.


Diesen „Hymnus auf die Würde“ hat Größl nun sehr treffend umgesetzt: Sein Kunstwerk ist eine tonnenschwere, stehende Scheibe aus Granit, in der Mitte von einem vertikalen Spalt durchzogen. „Einen ganzen Tag habe ich in einem Steinbruch im Bayerischen Wald verbracht, bis ich den richtigen Block gefunden hatte. Das war ein toller Moment“, erzählt der Bildhauer. Die nun gestaltete, raue Oberfläche ist von einer rostfarbigen Ader durchzogen, die Größl als „Horizont“ dient.
Dort steht eine Menschengruppe aus Metall, die trotz aller Scherenschnitt-Artigkeit bewusst divers gestaltet ist. Verbunden sind die sechs Charaktere durch das Symbol des Ordens, einen Hirtenstab. Halten sie sich an ihm fest? Oder tragen sie ihn? Das bleibt Interpretationssache. Aber klar wird: Nur als Gemeinschaft können sie den gespaltenen Kreis vereinen. „Hilfe braucht unterschiedliche Ansätze“, erklärt Schwester Christophora, „und den Mut, die Brüche der Welt, die Brüche des Lebens zu überwinden. In diesem Sinne sind wir alle beauftragt, Brückenbauer zu sein für eine bessere Welt.“