Süddeutsche Zeitung

Folkrock aus Kirchseeon:Wo die Hex tanzt und der Spirifankerl tobt

Lesezeit: 3 min

Die "Bayerische Rauhnacht" ist auf den Punkt inszeniert. Das Mystical der Band "Schariwari" verzaubert mit eindringlichen Bildern, seelentiefen Melodien sowie nachhallenden Gedanken.

Von Ulrich Pfaffenberger, Ebersberg

"Als Wintersturm Xynthia 2010 über Europa zog, hinterließ er versicherte Schäden von etwa zwei Milliarden Euro. Im Jahr zuvor wütete Klaus in Europa. Die Bilanz: ebenfalls rund zwei Milliarden Euro versicherter Schaden. Lothar übertraf 1999 beide Ereignisse. Für ihn mussten die Versicherer rund sechs Milliarden Euro bezahlen." So liest sich im nüchternen Versicherungsdeutsch das, womit unsere Vorfahren leben mussten, noch bevor ihnen Meteorologen und Aktuare die Welt erklärten. Für sie war es die "Wilde Jagd", die da in der Zeit zwischen Weihnachten und Lichtmess mit unheimlichem Klang über die Dächer fegte und die eigene Existenz ins Wanken brachte. Licht- und Tontechniker haben jetzt tief in die Sound- und Trickkiste gegriffen, um diesen Effekt nachzubilden: Bei der "Bayerischen Rauhnacht" fegt die imaginäre Gesellschaft mit wildem Getös' durch den Saal - und wenn man für ein paar Sekunden die Augen schließt, erwacht das Mitgefühl für jene, die derlei einst unwissend und unvorbereitet ausgesetzt waren.

Mit offenen Augen dagegen kann das Ebersberger Publikum beobachten, welches Bild sich die Menschen einst von dem Geschehen der Rauhnächte machten. Schon die fantasievollen Masken des Bühnenvolks und der Musiker sind jedes Hinschauen wert. Die enge Verbundenheit der Folkrocker von Schariwari mit den Kirchseeoner Perchten mündet in ein Spektakel aus Hörnern und Fratzen, die jedem Alptraum zur Ehre gereichen.

Selbst der Erzähler, ein überzeugender Ferdinand Dörfler in der Rolle des grobschlächtig-herzigen Holzmandls, erscheint in detailverliebter Gestalt, wie eine Miniatur aus einem Sagenbuch. Das Gleiche gilt für sein putziges Gegenüber, den von der Waterkant zugewanderten Troll, frech-vorlaut, aber im Monolog über den Weg in die Verbannung auch tief-nachdenklich, köstlich dahingezaubert von Mesi Sedlmeir. Der Kontrast zwischen den beiden Figuren könnte größer nicht sein - und erzeugt eine einladende Spielfläche für spannende wie heitere Momente. Etwa wenn der Troll übermütig mit seinem Messer einen Drudenfuß in einen alten Baum ritzt - und dessen Geist den Frevel mit einem Sprachsprung bestraft: Das Naturwesen muss sogleich auf Bairisch fluchen, statt auf Platt.

Das Spiel der Bayerischen Rauhnacht lebt davon, dass solche Späße, ebenso wie aktuelle Zeitbezüge, so selbstverständlich in das Geschehen eingeflochten sind, als gäbe es keinen Unterschied zwischen der Welt unserer Ur-Ur-Großeltern und heute. Das Kapitel über die "Frau Percht" zum Beispiel, die sich der ungetauft gestorbenen Kinder annimmt, die ein erbarmungsloser Klerus zur Bestattung außerhalb der Friedhofsmauer verdammt und denen das Himmelreich verwehrt bleibt: Wer an die unschuldigen Opfer von Krieg und Flucht unserer Tage denkt, dem treten beim von Günther Lohmeier seelentief intonierten Song "Mama!" unweigerlich Tränen in die Augen.

Wie man sowieso vor den Schariwaris nicht tief genug den Hut ziehen kann ob ihrer Klang- und Spielkunst. Das Folkrock-Ensemble beeindruckt stets mit einem beherzten und pfiffigen Umgang mit den eigenen Kompositionen - aber die "Rauhnacht" hat der Band eine Identität verschafft, die über den Tag und das einzelne Konzert hinausreicht. Diese Musiker spielen nicht nur, sie schwingen mit Leib und Seele mit. Lohmeier, Gesang und Gitarre, Rudi Baumann an Gitarre und Mandoline, Steve Moises an Schlagzeug und Bodhran, Sepp Bartl mit Keyboard und Akkordeon, Franz Meier-Dini am Bass und Rainer Eglseder am Glockenspiel spielen nicht nur mit traumwandlerischer Sicherheit zusammen und einander zu - sie befreien die Melodien auch von jeder technisch-irdischen Schwere und verleihen ihnen jene schwebende, mystische Kraft, die einem "Mystical" gebührt.

Optisches und dramaturgisches Highlight sind die beiden aufregenden und betörenden Tänze von Camila Mos, einmal als "Luz", einmal als "Hex". Die Frechheit, mit der sie ihre langen roten Haare durch die Luft wirbeln lässt, die herausfordernde Erotik ihrer Bewegungen und das wilde Stampfen ihrer Schritte erzählen mit deutlicher Sprache, wie verwirrend selbstbewusste Frauen jenen Zeitgenossen erscheinen mussten: Die nicht nur als Volk die "Rauhnacht" zur Ummantelung ihrer Ängste und Sorgen nutzten, sondern die auch als Herrschende in unheimlichen Gestalten wie dem Spirifankerl ein probates Mittel zur Ablenkung des Volkszorns sahen. Die dramatisch-bedrückende Szene eines Haberfeldtreibens gegen den bösen Bauern darf als analoge Ausprägung dessen verstanden werden, was wir Digitalen heute "Shitstorm" nennen.

Eindringliche Bilder, nachhallende Gedanken und Melodien: Was will man mehr von einem auf den Punkt inszenierten Bühnenstück? "Wenn man gestorben ist, ist man noch lange nicht tot", sagt in einem Anflug von Lebensweisheit der Troll zum Holzmandl. Das lässt sich mit Fug und Recht auch von den Legenden um die Rauhnächte konstatieren, vor allem dann, wenn ihnen so viel Leben eingehaucht wird wie im Mystical der Schariwaris. Stürmischer Applaus, der der Wilden Jagd kaum nachsteht, durchsetzt mit lauten Bravo-Rufen und heftigen Jauchzern ist der Lohn im vollbesetzten Alten Speicher für einen mitreißenden Auftritt.

Nach dem Auftakt in Ebersberg geht die "Bayerische Rauhnacht" auf Tour, unter anderem ist das Mystical in Erding, Rosenheim, Germering und Taufkirchen zu sehen. Alle Termine und Infos gibt es auf der Homepage der Band Schariwari .

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