"Schach und Religion" in Ebersberg:Friedensherold zwischen Dame und König

Aushängeschild einer Ausstellung in der Kreisstadt ist der Dichter und Jesuit Jacob Balde. Experte Wilfried Stroh hat dessen lyrische Ode über das Spiel nun herausragend übersetzt und analysiert

Von Anja Blum

Wer bei Willfried Stroh in Freising anruft und nicht das Glück hat, ihn persönlich zu erwischen, muss sich auf etwas gefasst machen: Der Anrufbeantworter spricht Latein. Dieser Sprache nämlich gilt die Leidenschaft des Altphilologen, sein Ziel ist es, aus der eigentlich toten eine lebendige Sprache zu machen. Noch heute, mit 79 Jahren, reist der Professor für Vorträge durchs Land und bietet an der Uni in München wöchentlich sein "Colloquium Latinum" an, in dem lateinische Texte besprochen werden - ausschließlich auf Latein. "Diese Veranstaltungen kann man sogar im Internet ansehen, deswegen bin ich weltbekannt", sagt der nimmermüde Stroh und lacht. Jedenfalls erhalte er Reaktionen aus aller Herren Länder.

Neben vielen anderen Steckenpferden - Stroh beschäftig sich mit antiker Rhetorik (Cicero) und erotischer Literatur (Ovid) sowie der lateinischen Metrik - ist der 79-Jährige ein Experte für Jacob Balde, den "deutschen Horaz", einen jesuitischen Schriftsteller der Barockzeit. Und hier kommt Ebersberg ins Spiel: Weil die Münchner Ordensbrüder damals das Ebersberger Kloster regelmäßig für ihre Sommerfrische nutzten, verbrachte auch Balde immer wieder Zeit in der Kreisstadt. Außerdem hat er, neben zahllosen anderen Gedichten, eine umfangreiche Ode über das Schachspiel geschrieben, auf Latein. All das macht den Geistlichen zum perfekten Aushängeschild der Ausstellung der Baldhamer "Schach- und Kulturstiftung" im Ebersberger Rathaus, die an diesem Samstag, 3. August, eröffnet wird. Denn ihr Thema lautet: "Schach und Religion". Unter den Rednern: kein Geringerer als Balde-Koryphäe Wilfried Stroh.

"Schach und Religion" in Ebersberg: Wer darf neben dem König stehen? Weil das Schachspiel lange als Abbild der mittelalterlichen Ständegesellschaft galt, wurde der heutige Läufer oftmals als Bischof dargestellt. In der Ebersberger Ausstellung sind mehrere solcher wertvoller Figurensätze zu sehen.

Wer darf neben dem König stehen? Weil das Schachspiel lange als Abbild der mittelalterlichen Ständegesellschaft galt, wurde der heutige Läufer oftmals als Bischof dargestellt. In der Ebersberger Ausstellung sind mehrere solcher wertvoller Figurensätze zu sehen.

(Foto: Christian Endt)

Er hat anlässlich der Ausstellung die lyrische Schach-Ode Baldes ganz genau unter die Lupe genommen, sie neu übersetzt und herausragend interpretiert - mit höchst erstaunlichem Ergebnis. Sogar für Stroh selbst. Denn da das Oeuvre des neulateinischen Dichters immens sei, gesteht der Professor, kenne er auch nicht jede Zeile ganz genau, die Schach-Ode etwa sei ihm nur oberflächlich gegenwärtig gewesen. Also erging es dem Experten zunächst wie vielen anderen Lesern: Er ließ sich von Balde in die Irre führen. "Wie er das ganz systematisch tut, gleich in der Überschrift, das ist wirklich einmalig", schwärmt Stroh.

Der Titel des Gedichts nämlich kündigt an, es gehe um die "Verachtung der irdischen Dinge, die nach dem launischen Spiel der Fortuna durch ihre Kürze und Wechselhaftigkeit sich als nichtig erweisen". Schon hier lässt der Jesuit also zwei mächtige Gedankenwelten zusammenfließen: Das ist zum einen das Neue Testament, das rät, die Freuden der Welt zu verachten und statt dessen nach dem Himmelreich Gottes zu streben. Demgegenüber die platonisch-stoische Philosophie, die davor warnt, auf das launische Glück zu vertrauen. Wer käme da auf die Idee, dass dies alles nur hübsche Fassade und mitnichten das Thema dieser Schach-Allegorie sei?!? Zumal es in der ersten Strophe gleich im selben Sinne weiter geht: "Was schlagen wir Bücher auf, vollgestopft mit Blättern damit uns die Träume des großen Sokrates offenbar werden? Die ernste Wahrheit über alle Nichtigkeiten der Menschen entfaltet sich auf einem einzigen Brett. (...) Weh! Wir spielen und wir werden gespielt! Ungleich sind unsere Abzeichen, im Untergang sind wir gleich." So die aktuelle Übersetzung von Wilfried Stroh.

Wilfried Stroh

Professor Wilfried Stroh.

(Foto: Privat)

Im Gegensatz zu vielen anderen Philologen hat der 79-Jährige jedoch erkannt, dass diese Deutung - das ganze irdische Leben ist flüchtig und nichtig wie ein Spiel - den Kern der Ode gar nicht trifft. Aus seiner Übersetzung und Interpretation hat der Professor einen wunderbaren Aufsatz komponiert, in dem er das umfangreiche Werk Strophe für Strophe, Wort für Wort fast, durcharbeitet. Ausführlich nachzulesen im Katalog zur Ausstellung - ein wahres Schmuckstück! -, ein Destillat wird es mündlich zur Eröffnung geben. Wohin dabei die Reise geht, macht - im Gegensatz zur Original-Ode - Stroh bereits im Titel klar. Er lautet: "Was Jacob Balde beim Schachspiel über den Krieg dachte". Es ging dem Geistlichen nämlich nicht um ein theologisch-philosophisches Thema, sondern vielmehr um die dramatischen Verhältnisse seiner Zeit, den Dreißigjährigen Krieg. Das legt der Freisinger Experte so einleuchtend dar, dass wohl kein Interpret mehr anderes behaupten wird.

Baldes Schach-Allegorie erschien 1643 als Teil einer großen Gedichtsammlung, da dauerte der Krieg bereits 25 Jahre. Die militärische Auseinandersetzung, die gerade in Deutschland verheerende Folgen zeitigte, ist der Bezugspunkt, um den die Schach-Reflexionen Baldes kreisen. Zwar vermeidet der Autor konkrete aktuelle Bezüge, greift für seine Beispiele lieber auf Antike, Mythologie und die weit entfernte Vergangenheit zurück - doch hat man erst einmal erkannt, worum es ihm geht, sind seine Aussagen erstaunlich deutlich. Ganz und gar "imponierend und einmalig" findet der Professor Baldes empathisches Eintreten für die Bauern als Opfer des Krieges - und seine klare Zuweisung der Schuld an die Spitze der Gesellschaft. "Keiner der großen Dichter damals hat sich getraut, diese soziale Kritik so zu formulieren!": "Wenn ich die Toten nennen will, dann ist es euer Blut, ihr Bauern, durch das der Sieg erkauft wird. Ihr büßt für die gemeinsame Untat, ihr für das Verbrechen. (...) Was immer die Vornehmen mit hochgesinnter Untat tapfer Närrisches tun, dafür wird der letzte Corydon im Gau bestraft. Die Schuld des Palasts brennt die dürren Hütten nieder." Wie Stroh zeigt, wird sogar der römisch-deutsche Kaiser höchstselbst, Ferdinand der III. in Wien, von Balde in einer Strophe über die Figur des Königs kritisch zur Rechenschaft gezogen, inklusive furchtbar ernsten Schlussworts: "Wenn wir nur Aufträge erteilen, wenn wir nur gerade zur Hälfte Fabier sind; wenn wir, feucht vom Wein, für Salben und Rosen unsere Muße verkaufen, dann ist für die Deutschen der Würfel gefallen."

Jakob Balde

Dieser Kupferstich zeigt den Lieblingsdichter von Professor Stroh, den Jesuiten Jakob Balde.

(Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

Letztendlich ist die Ode für Stroh eine Sammlung "von den Figuren des Schach inspirierter, teils mitfühlender, teils bissiger Kommentare eines leidenschaftlich engagierten, freimütigen Zeitgenossen zum gegenwärtigen Kriegsgeschehen". Klartext jedoch durfte zu Baldes Zeiten nicht gesprochen beziehungsweise geschrieben werden, also diente ihm die gängige moral-christliche Allegorie des Schachspiels als hübscher Deckmantel. "Balde ist hier auf dem Weg zum Friedensherold, als der er sich ein paar Jahre später bekennen wird", konstatiert Stroh. "Ich beklage die schrecklichen Kriege unseres Zeitalters, unter deren Schilden ja doch alle Arten von Dummköpfen sich austoben, wo der Kriegsgott Mars schrecklichen Lastern ungestraft zügellose Befriedigung freigibt."

Strohs Aufsatz über Jacob Baldes Schach-Ode zu lesen ist ein Genuss, einfach weil hier - über Jahrhunderte hinweg - ein kluger Kopf in einen anderen blickt. Der Professor schätzt an seinem Lieblingsdichter vor allem dessen Humor, der selbst bei schwierigen Themen stets durchscheine, seinen gekonnten Umgang mit sämtlichen dichterischen Gattungen und seine immense Bildung, außerdem schwärmt er von der schöpferischen Kraft des Jesuiten, seiner für diese Zeit völlig untypischen "Novitas!" Stroh indes erweist sich diesem hellen Geist des Barock als ebenbürtig, knackt so mache philologische Nuss, dechiffriert literarische Zitate, erklärt diverse geschichtliche Bezüge und beschert dem Leser so eine höchst ansprechende sowie überzeugende Interpretation der Ode.

Und doch, an einer anderen Stelle könnte Wilfried Stroh wohl Hilfe gebrauchen: Es gibt tatsächlich auch eine Ebersberger Ode von Balde, in der er die "Lieblichkeit" des Landsitzes der Jesuiten beschreibt, um diesen einem Freund schmackhaft zu machen. Der Ebersberger Historiker Bernhard Schäfer greift in seinem Aufsatz über Jacob Balde und das Kloster (herausgegeben 2002) auf eine fast 200 Jahre alte Übersetzung des Kanonikers und Dichters Johannes Schrott zurück, es könnte also wohl nicht schaden, einen modernen Blick auch auf diese Ode zu werfen. Stroh indes ist skeptisch: "Dieses schwierige Gedicht müsste zusammen mit einem Ortskenner interpretiert werden", sagt er. Na, da wird sich doch jemand finden lassen, oder?

Ausstellung "Schach und Religion" der "Schach- und Kulturstiftung G.H.S." im Rathaus Ebersberg, Eröffnung am Samstag, 3. August, um 16 Uhr.

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