Süddeutsche Zeitung

Recherchearbeit im Unterricht:Emotionale Erzählungen

Grafinger Gymnasiasten präsentieren Geschichten von Geflüchteten

Von Carolin Schneider, Grafing

"Wir meckern hier über die kleinsten Dinge, dabei gibt es Menschen, die haben sehr, sehr schlimme Sachen durchmachen müssen", sind sich Viivi Fleischer, Louisa Nicklas und Christina Görisch einig. Wenige Minuten davor haben sie einen Teil der Geschichte von David aus Eritrea vorgelesen. David, dessen richtiger Name geheim bleiben soll, hat sich 2013 für die Flucht aus seinem Heimatland entschieden.

Den Teil seiner Geschichte, die die Schülerinnen des Gymnasiums Grafing vorlesen, prägen Gefangenschaft, Angst und tagelange Flucht: "In Libyen wurden David und vier weitere Männer von Soldaten festgenommen", hört das Publikum. "Ihnen wurde gesagt, dass sie nur durch eine Zahlung von 15 000 Dollar freikommen würden. Wenn sie nicht zahlten, wurde ihnen mit dem Verkauf ihrer Organe gedroht. Da David kein Geld hatte, hatte er keine Wahl und musste versuchen zu fliehen. In den Nächten begann er sich durch den Erdboden unter der Tür herauszugraben. Nachdem ihm und seinen Mitgefangenen die Flucht durch das Loch im Boden gelungen war, rannten sie 15 Stunden durch die Nacht, um sich vor den Verfolgern in Sicherheit zu bringen." Die Zuhörer in der Kleinen Mensa des Gymnasiums schweigen betroffen.

Eineinhalb Jahre haben sich 14 Schüler des Projektseminars "Fluchtschicksale" gemeinsam mit den Lehrern Gabriele Peter und Richard Meisinger mit dem Thema Asyl und Integration beschäftigt. Sie haben anerkannte Flüchtlinge aus dem Landkreis kennengelernt und durch die Vertrauensbasis, dank mehrerer Treffen aufgebaut, Geschichten von der Flucht erfahren. Unter dem Titel "Erfahren, erlebt, erzählt" haben sie die Geschichten in einem Buch zusammengefasst. "Ich war einfach genervt von der ganzen Hetze gegen Flüchtlinge", erzählt Philipp Ohmann. "Als ich dann erfahren habe, dass dieses P-Seminar angeboten wird, war sofort klar, dass ich mitmachen möchte."

Der 18-Jährige hat zusammen mit Philipp Bengl und Justus Hof die Geschichte einer syrischen Familie recherchiert. Sie haben die Geschichte sehr faktenorientiert aufgeschrieben. "So wurde uns die Geschichte erzählt", erklärt Justus Hof. "Der Vater der Familie verhielt sich distanziert und wollte die Geschichte emotionslos wiedergeben." Abdien, der jüngste Sohn der Familie, erzählte den drei Schülern vom Flüchtlingslager in der Türkei, in dem sie "jeden Tag zwei Mahlzeiten aus riesigen Töpfen" bekommen haben. "Das hat mich besonders berührt", so Justus Hof. "Denn der Junge, der zu dieser Zeit noch ein Kleinkind war, erzählte sehr eindrücklich, dass das seit langem das erste Mal war, dass sie zwischen zwei verschiedenen Mahlzeiten wählen durften."

Mengistab-Gebryhannes, dessen Geschichte Ekaterina Bezmelnitsina, Jasmin Khun und Sarah Kofler aufgeschrieben haben, ist selbst da. Er erzählt in gutem Deutsch und mit einem sympathischen Lächeln auf den Lippen von seinem jetzigen Wohnort Zorneding und davon, wie wohl er sich dort fühlt. "Wir sind so erstaunt darüber, was für ein intelligenter, freundlicher und positiver Mensch er ist. Trotz allem, was er erlebt hat", sagen die Schülerinnen beeindruckt. In der Geschichte beschreibt der 23-Jährige sein Leben in Eritrea so als ob es auch genauso gut in Grafing oder Ebersberg hätte sein können: Er ging mit Freunden ins Kino, lebte den christlichen Glauben und lernte viel, um später einen guten Beruf zu bekommen. Trotzdem konnte er nicht bleiben. "In Eritrea gibt es keine Freiheit. Keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit, keine Religionsfreiheit. Man wird auf Schritt und Tritt von Spionen des Diktators verfolgt", heißt es in seiner Geschichte. Deutschland sei so, wie er es sich erhofft habe: Hier könne er in Frieden und Freiheit leben.

Zu ihren Interviewpartnern sind die Schülerinnen und Schüler auf ganz unterschiedliche Weise gekommen. "David habe ich im Supermarkt kennengelernt", erzählt Christina Görisch. "Wir arbeiten beide dort und irgendwann habe ich mich getraut, ihn anzusprechen, ob wir seine Geschichte hören dürfen." Andere haben einen Deutsch-Computerkurs besucht, um Kontakte zu knüpfen, oder bestehende Kontakte aus dem Umfeld genutzt. Die Geschichten im Buch sind so verschieden wie die Geflüchteten selbst: Manche sind sehr emotional aus der Sicht der Interviewpartner geschrieben, andere sind Nacherzählungen des Interviews, gespickt mit eigenen Eindrücken.

Sensibel sind die Schülerinnen und Schüler mit einem aktuellem Thema umgegangen und konnten dank der Unterstützung des Lions-Clubs Ebersberg schließlich ein Buch voller Geschichten präsentieren. "Durch das Projekt wird einem erst richtig klar, wie gut man es eigentlich hat", fasst Philipp Ohmann das P-Seminar am Ende des Abends zusammen.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2018
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