Psychotherapeut:Was macht das mit den Familien?

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Psychotherapeut Florian Beutel, hier bei einer Veranstaltung 2016 in Moosach, rät in der Krise zu Aufrichtigkeit. (Foto: Christian Endt)

Noch nie hatten so viele Menschen dasselbe Problem - Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Florian Beutel aus Grafing über Chancen und Risiken der aktuellen Situation

Interview von Michaela Pelz

Die ersten Wochen Überdosis "Home" liegen hinter den Menschen. Schooling und Office sind unter einem Dach, außerfamiliäre Kontakte auf ein Minimum zurückgefahren. Manche sind schon am Limit, andere schlagen sich wesentlich besser als erwartet. Doch immer noch gibt es zahlreiche Unwägbarkeiten. Was das bedeutet und wie man ihnen begegnen kann, weiß Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Florian Beutel. Die SZ hat mit dem Moosacher gesprochen, der seit sechs Jahren in Grafing eine Praxisgemeinschaft mit seiner Kollegin Annina Hentschel betreibt.

SZ: Was ist aktuell die größte Herausforderung für Familien?

Florian Beutel: Nach wie vor der neue Lebensrhythmus mit komplett neuem Alltag. Dabei gilt es eine Struktur zu finden, die den Bedürfnissen jedes einzelnen gerecht wird.

Was hat sich Ihrer Meinung nach hier im Vergleich zu der Anfangszeit verändert?

Zunächst dachten alle "Das kriegen wir schon hin, der Zeitraum ist ja überschaubar!" Mittlerweile stellt sich ein Tief ein, weil die Perspektive so unklar ist. Ein "Wir fahren auf Sicht" ist zwar durchaus nachvollziehbar, bietet aber keine Orientierung. Das wird nicht besser durch die zahlreichen "Corona-Ticker" in den Medien. Aus der Angstforschung weiß man, dass die dauernde Beschäftigung mit solchen Drohszenarien die Wahrnehmung verengt. Man konzentriert sich nur darauf.

Was raten Sie also?

Die mediale Infonutzung stark zu begrenzen. Ein Update am Tag reicht, ansonsten lieber andere Dinge tun.

Was empfehlen Sie da?

Rausgehen, die Region, die "Spektakularität im Unspektakulären" entdecken - vielleicht beim Waldspaziergang. Kreative Alternativen für kontaktloses Spiel finden: Sechsjährige können auch via Skype gemeinsam Lego bauen.

Jetzt sind ja Ferien, macht das die Dinge nicht leichter?

Ich sehe das nicht nur positiv. Die schulische Arbeit liefert ja auch eine Tagesstruktur, die jetzt wegfällt. Gleichzeitig müssen wir auf die üblichen Ferienangebote verzichten. Da ist viel Kreativität gefragt, um die Bedürfnisse nach Lust, Freude, Erleben zu befriedigen.

Verstehen denn die Kinder, warum all diese Maßnahmen nötig sind?

"Jein" - das hängt vom einzelnen Entwicklungsstand ab. Es ist aber wohl bei jedem angekommen, dass Corona unsere Form des Zusammenlebens verändert und für alle eine Bedeutung hat. Grundsätzlich müssen Eltern nach wie vor den Rahmen stecken und die Kinder je nach Alter entsprechend begleiten. Bei einem Fünfjährigen ist das engmaschiger nötig, der vergisst beim Spielen alles. Bei Teenagern wiederum kommt die Bedeutung der Peergroup ins Spiel. Da stellt eine Begrüßung mit Küsschen oder Umarmung auch gleichzeitig eine Aussage über die Nähe der Beziehung dar.

Die Bedeutung von Mindestabstand und "Social Distancing" wird ja wieder und wieder überall betont, sicher können einige es schon gar nicht mehr hören.

Je länger man sich mit einer Sache beschäftigt, desto mehr stumpft man ab. Hinzu kommt: Das Virus ist unsichtbar und nur die wenigsten kennen jemanden, der wirklich schwer erkrankt ist. Da ist es nicht leicht, trotzdem weiter "hart" zu bleiben.

Das aber müssen Eltern auf jeden Fall - sonst sind all die Maßnahmen, die es ja aus gutem Grund gibt, obsolet!

Wie lässt sich verhindern, dass die Kinder dabei Ängste entwickeln?

Die zentrale Frage ist: Wie gehen die Eltern damit um? Wie sehr lassen sie sich selbst verunsichern? Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Kinder das mitbekommen und übernehmen. Mir gefällt am besten das Sprichwort der Inuit: "Sei zu deinen Kindern bedingungslos ehrlich, überlege dir nur, wie du ihnen die Wahrheit verkaufst."

Was kann man tun, um sich selbst zu stärken?

Sachlich an die Situation herangehen. Sich als Eltern gegenseitig stützen in Netzwerken. Erfahrungen austauschen: Was bewährt sich, was klappt nicht so gut? Eigentlich eine tolle Lebenssituation: Wir haben gerade alle dasselbe Problem! Kinder haben ein Grundbedürfnis nach Ordnung und Kontrolle und es ist Aufgabe der Eltern, das zu erfüllen.

Nicht bei allen läuft es rund.

Ich erlebe Familien, bei denen die ganze Dynamik abrutscht und sich massive Probleme entwickeln. Um die mache ich mir große Sorgen. Diese Kollateralschäden in Form von psychischen Nachwirkungen wird man wahrscheinlich erst hinterher sehen. Zumal die aufsuchende Jugendhilfe eingestellt ist und Tageskliniken zugemacht haben.

Was sollte man tun?

Sich unbedingt Hilfe suchen. Und wenn es nur ein entlastendes Telefonat ist, das hilft, die Perspektive zu wechseln. Egal, wo man landet: Der jeweilige Ansprechpartner wird einen dann schon weitervermitteln.

Sie arbeiten weiter?

Wir haben einen Kassensitz und damit auch einen Versorgungsauftrag. Nach wie vor sind wir täglich in der Praxis - wenn medizinisch-therapeutisch nötig, ist eine Präsenzsitzung weiter möglich. Und zum Glück können wir Videosprechstunden abhalten und am Telefon beraten.

Was geben Sie dabei Ihren Gesprächspartnern mit auf den Weg?

Aktuell bespreche ich mit allen Patienten, dass jeder Tag etwas für den Kopf, das Herz und den Körper beinhalten soll. Mit "Herz" meine ich Dinge, die Spaß machen und Freude bringen, bei denen ich glücklich bin oder mich mit anderen verbunden fühle - also Gefühl.

Sie haben selbst vier Kinder zwischen zwei und 14 Jahren - wie verbringen Sie derzeit die Zeit?

Jeden Tag besprechen wir in der Früh, was wir machen können und strukturieren den Tag. Bei schönem Wetter gehen wir immer ins Freie. Bei den Kleinen ist die Aufrechterhaltung des Spielalltags ganz wichtig - sie brauchen Normalität. Dafür zu sorgen ist die wichtigste Mama-Papa-Aufgabe. Ansonsten ermuntere ich die Kinder, sich Projekte zu suchen. Eine meiner Töchter hat ein Paletten-Sofa gebaut, die Älteste bereitet sich auf ihre Abschlussprüfungen vor.

Gutes Stichwort: Egal, ob die Schulen nach Ostern wieder öffnen , jetzt schon scheint sicher, dass alles was früher üblich war - Mottotage, Streich, Zeugnisverleihung, Abschlussball und -fahrt - ersatzlos entfallen wird. Viele Teenager sind darüber grenzenlos enttäuscht. Was kann man tun, um ihnen nun beizustehen?

Zunächst geht es darum, den Zustand gemeinsam auszuhalten - man darf nicht vergessen, dass dieses ganze Drumherum auch "Initiationsriten" sind und eine bestimmte Entwicklungsfunktion haben. Also nicht versuchen, die negativen Gefühle loszuwerden, sondern den Trauerprozess begleiten. Immer sehen, was das jeweilige Kind gerade braucht. Später kann man auch Zuversicht vermitteln, überlegen, was es anstatt für Möglichkeiten gibt.

Hätten Sie vielleicht noch einen allerletzten Tipp?

Die "Angstfrei-News" der Angstselbsthilfe München lesen! Da gibt's nur positive Corona-Nachrichten.

© SZ vom 14.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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