Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:"Zu viele Gedanken im Kopf"

Ein 50-Jähriger sucht nach jahrzentelangem Leiden unter einer Psychose seinen Weg zurück ins Leben.

Von Alexandra Leuthner, Ebersberg

Und plötzlich war da dieser Schmerz im Kopf. Und die Angst. Dimitrios K. (Name geändert) fasst sich an den Schädel, hält die Hand auf die Stelle, wo er es zum ersten Mal gespürt hat, er spricht von einem Schlag. Trüge er keine Maske, würde sein Gesicht vermutlich von dem Schrecklichen erzählen, so tun es nur seine braunen Augen mit den kleinen Fältchen rund herum. Und natürlich seine Worte. Manche Worte, manche Sätze wiederholt er, immer wieder, weil sie sich ihm eingebrannt haben, ihn verletzt haben, als habe sie ein anderer gesagt, seit die unfassbare Krankheit über ihn gekommen war, gleichsam aus dem Nichts.

Die Krankheit brach während der Armeezeit aus

18 Jahre alt war der gebürtige Münchner mit griechischen Eltern, als sich sein Leben von einem Tag auf den anderen veränderte. Heute ist er 50, ein gestandener Mann eigentlich, der in einem betreuten Heim lebt, in einem Zimmer, das er sich mit einem anderen teilt, mit festen Regeln, und jetzt auch noch unter Coronabedingungen, also mit Abstand und Maskenpflicht, seine Familie nicht bei ihm. Dimitrios K. weiß gut zu beschreiben, was nach jenem Tag mit ihm passierte, als es anfing, das ständige Auf und Ab, welches seine vergangenen drei Jahrzehnte bestimmt habe. Seit eineinhalb Jahren geht es nun aufwärts, er fühlt sich besser, hier im Heim, bekommt Medikamente, die seine Seele im Gleichgewicht halten und seine Psychose unter Kontrolle.

Ein Militärpsychologe diagnostizierte die Erkrankung schon kurz nach ihrem Ausbruch. Dimitrios K. hatte zwei Monate zuvor seinen Militärdienst bei Thessaloniki begonnen. "Meine Eltern haben mich noch zum Hauptbahnhof gebracht und alles war in Ordnung. Ich habe mich so gefreut." Auch in Griechenland habe er sich noch wohlgefühlt, er erzählt von seinen Kameraden, von den ersten Zigaretten, welche sich die jungen Männer gemeinsam am Kiosk gekauft hätten. Alles gut, bis plötzlich dieser Schmerz über ihn herfiel, "ich kann nicht sagen, was das ausgelöst hat", stellt er fest.

Mit 25 wurde er arbeitsunfähig

Aber das Böse, wie er es manchmal nennt, blieb. Zunächst bekam er Medikamente, durfte den Militärdienst beenden, "ist nicht so schlimm", hatte der Arzt seinen Eltern gesagt, die besorgt mit seinem Bruder aus München angereist waren, als sie hörten, dass ihr Sohn in ein griechischen Militärkrankenhaus gebracht worden war. Nach seiner Entlassung blieb er noch für einen Monat bei seiner Großmutter in Griechenland, wie er berichtet, "ich war viel unterwegs, habe mir die Landschaft angeschaut." Doch, zurück in Deutschland, sei es immer schlimmer geworden. Aufenthalte in Nervenkliniken folgten, immer wieder war er in Haar, über 20 Mal auch in der Münchner Nussbaumklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU.

Einen Job als Staplerfahrer - in seinem Lehrberuf als Bäcker hatte er nicht mehr arbeiten wollen - verlor er wegen eines Krankheitsschubs. Er wurde behandelt, medikamentös eingestellt, bekam einen neuen Job, bei Rank-Xerox und schwärmt noch heute davon. "Das war eine sehr schöne Arbeit, Bücher binden, Ringblockbindungen, ich hatte Kontakt zu netten Menschen, da kamen schöne Frauen in den Laden." Bis zum nächsten Krankheitsschub. Dann war es vorbei, Dimitrios K. musste Rente beantragen, mit 25 Jahren.

Nach einem Schub kam er in die Geschlossene

Er versucht, zu beschreiben, was in ihm passierte, wenn "es" kam: "Ich hatte so viele Phantasien, da waren so viele Gedanken in meinem Kopf: Warum ist das so und nicht anders, warum fährt die S-Bahn so und nicht anders. Das hat nicht mehr aufgehört." Und es wurde immer schlimmer, bei seinen Eltern konnte er nicht mehr wohnen, zog vorübergehend in eine betreute WG, landete schließlich in einem Obdachlosenwohnheim, wo es zum Eklat kam. Zu einem Polizeieinsatz, einer Straßenabsperrung, "die haben gedacht, es wäre Terror, die standen mit Schlagstöcken um mich rum und Handschellen. Dabei habe ich nur geschrien: 'Ich bin der Teufel, ich bin der Teufel.'" Dimitrios K. hält sich beide Hände auf den Bauch, während er erzählt. "Hier drinnen", sagt er, "hier drinnen fühle ich ihn immer noch, aber jetzt werde ich beschützt."

Nach dem Polizeieinsatz bekam er einen Betreuer, wurde in eine geschlossene Anstalt eingewiesen, im Landkreis Mühldorf, dann in eine zweite. "Ich habe mich furchtbar gefühlt, eingesperrt, so weit von meiner Familie. Nur weil ich geschrien habe." Dann konnte er umziehen ins Wohnheim im Landkreis Ebersberg, mit der Möglichkeit, das Haus zu verlassen, zu arbeiten - wenn auch nur in der Tageswerkstatt." Zur Zeit male er Weihnachtskarten erzählt er, kümmere sich um das Frühstücksgeschirr im Haus und seit kurzem um die Wäsche, stückchenweise mehr Selbständigkeit. Vielleicht könne er eines Tages das Heim verlassen, vielleicht nach Griechenland ziehen, "es ist so schön da." Bis dahin ist es sein größtes Glück, wenn er am Wochenende zu seinen Eltern fahren darf, sie nehmen ihn mit zum Essen, in die Kirche. Damit er das auch weiter machen kann, hat er seine Angst vor dem Impfen niedergekämpft, er habe jetzt einen Termin, erzählt er. Und dann hofft er auf ein bisschen Geld, mit dem er auch mal seine Familie zum Essen einladen kann.

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