Süddeutsche Zeitung

Prozess:Messer-Angreifer von Grafing: "In dem Moment hat alles Sinn ergeben"

  • Der offenbar psychisch kranke Paul H. gesteht, am 10. Mai 2016 vier Menschen in Grafing-Bahnhof mit einem Messer angegriffen zu haben.
  • Ein Familienvater aus Wasserburg starb dabei, drei Menschen wurden schwer verletzt.
  • Vor dem Landgericht München II sagt er aus, er habe geglaubt, Grafing sei "von Muslimen ausgerottet", er habe sich deshalb zum Selbstschutz dem Islam angeschlossen.

Aus dem Gericht von Korbinian Eisenberger

Johannes B. fuhr mit dem Fahrrad vorbei, als ihm Paul H. von hinten in den Rücken stach. B., damals 58, überlebte schwer verletzt. Jetzt kommt B. in einen Gerichtssaal in München, er stützt sich auf einen Gehwagen, zieht einen Fuß nach, geht zittrig nach vorne gebeugt. Am Tag nach dem Messerangriff schrieben die Zeitungen bundesweit über den Fall, Johannes B. ist 14 Monate danach immer noch gezeichnet, eine halbseitige Lähmung, die bleiben wird. Der Grafinger ist Nebenkläger, er nimmt neben seiner Anwältin Platz. Zwischen ihm und dem Mann, der damals zustach, liegen jetzt sechs Meter, sie sitzen sich genau gegenüber.

Montagmorgen vor dem Landgericht München II. Gut ein Jahr nach der Messerattacke in der Kleinstadt Grafing östlich von München hat der Prozess gegen den Beschuldigten begonnen. Der offenbar psychisch kranke Paul H. gesteht, dass er in den Morgenstunden des 10. Mai 2016 am Bahnhof vier Menschen mit einem Messer angegriffen hat, drei Grafinger überlebten schwer verletzt, ein Mann aus Wasserburg wurde getötet. "Ich habe mein Messer genommen und bin auf vier Leute losgegangen", sagt er. Für Siegfried W. kam jede Hilfe zu spät, er erlag seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus. Seine Frau und sein Sohn sind gekommen, als Nebenkläger sitzen sie in der anderen Ecke des Gerichtssaals.

Es muss ein schwerer Gang sein für die Hinterbliebenen und für Johannes B., die anderen beiden Opfer sind als Zeugen geladen. Es geht um Mord und dreifach versuchten Mord, für den Prozess sind fünf Verhandlungstage angesetzt. Die entscheidende Frage dürfte sein, ob Paul H. damals schuldfähig war. Ein Gutachten attestiert dem 28-Jährigen eine "bipolare affektive Störung", mit einer Form von Verfolgungswahn. Sollte sich das Attest bestätigen, käme es wohl zu einer dauerhaften Unterbringung in einer Psychiatrie.

Wegen des Attests gibt es keine Anklage, der Staatsanwaltschaft liest die "Antragsschrift" vor. Sie klingt wie aus dem Drehbuch eines Horrorfilms.

Grafing-Bahnhof um 4.56 Uhr: Die erste S-Bahn soll nach München fahren, da rennt ein Mann in Todesangst über den Bahnsteig und schreit um Hilfe, verfolgt von Paul H. Der damals 27-Jährige soll ein Messer in der Hand gehabt haben, so beschreibt es die Staatswanwaltschaft. Drei Menschen soll er da bereits schwer verletzt haben, als er von hinten einen vierten Mann angreift, der ihm zufällig über den Weg gelaufen ist: Siegfried W. Das Messer erwischt den 56-Jährigen am Hals. W. habe noch zu flüchten versucht, doch Paul H. soll ihn bis in die S-Bahn verfolgt haben, wo er dem am Boden liegenden Mann neun Messerstiche versetzt haben soll. Wenig später stirbt der Wasserburger Familienvater in einem Krankenhaus.

Wer macht so was? Und warum? An diesem Montag gibt es nun erstmals Antworten vom Beschuldigten selbst. Paul H. stellt sich den Fernsehteams und Fotografen. H., sauber frisierte Haare, kariertes Hemd. Er spricht mit ruhiger Stimme zum Richter gewandt, die Hände im Schoß, ein leicht nervöses Zucken in den Augen.

Die Angehörigen von Siegfried W. haben die Hände gefaltet, Johannes B. hat die Arme verschränkt. Und H. erklärt sich: Die bipolare affektive Störung, die ihm ein psychiatrisches Gutachten attestiert, habe damals immer wieder zu Angstzuständen geführt. Weil er am Tag vor dem 10. Mai einen Schlafenden für ein Mordopfer hielt, ließ ihn seine Familie nicht zum ersten Mal in eine Klinik in Gießen einweisen.

"Da hatte ich schon starke Angst und wollte Deutschland einfach nur verlassen", sagt H. Tags darauf habe er sich dort selbst entlassen, habe "sehr viele Amphetamine" genommen. Er wollte auswandern, Richtung Süden, deswegen sei er nach München gefahren. Als er in der Nacht zum Dienstag in Grafing ankam, habe er unter starkem Drogeneinfluss gestanden. "Das hat meine Depression verstärkt", sagt er, das habe er auch gewusst. Dann brach in Grafing der Wahnsinn aus.

Auf Nachfragen des Richters gibt H. tiefe Einblicke in das, was möglicherweise ein Auslöser war. Mit 13 habe er mit Cannabis angefangen, fünf bis zehn Bongs am Tag, mit 14 wurde er zum ersten Mal mit Haschisch erwischt. Seit er 21 war, trinke er drei bis zehn Bier täglich. 2014 habe er dann bemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimme, dass er starke Ausschläge guter und schlechter Phasen habe. Er habe mehrmals versucht, sich umzubringen, und beschäftigte sich fortan mit Verschwörungstheorien aus der rechten Szene, startete eine Facebook-Seite, "um die Leute vor dem Untergang zu warnen", sagt er. Weil er dort als Nazi beschimpft wurde, löschte er die Seite aber wieder. "Ich wollte nicht in diese Ecke gestellt werden", sagt er. Er habe keine rechte Gesinnung.

Sein Verteidiger Florian Alte, ein Spezialist für Strafrecht, erklärt, dass sich H. der Dimension seiner Tat seit zwölf Monaten bewusst sei. H. ist in der geschlossenen Forensik untergebracht, im Gerichtssaal bewachen ihn zeitweise bis zu vier Beamte. H. selbst ist geständig, er bestätigt fast jedes Detail, das ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft.

Am Münchner Hauptbahnhof, sagt H., sei er zunächst in einen Zug nach Dachau eingestiegen. "Weil ich dachte, dass der Hauptbahnhof gesprengt wird", sei er gleich wieder ausgestiegen, zum Isartor-S-Bahnhof gegangen und in den nächstbesten Zug eingestiegen - der fuhr nach Grafing, es war also ein reiner Zufall. Dort setzte er sich auf eine Bank, und der Wahnsinn nahm seinen Lauf. Er habe gedacht, dass in diesen Minuten bereits viele Menschen in Konzentrationslagern ermordet würden, sagt H. Dann habe er sich ein Gramm Marihuana zu einer Zigarette zusammengedreht. "Ich dachte, ich rauche meinen letzten Joint, bevor ich sterbe", sagt er.

Weil der Bahnhof um 1.39 Uhr menschenleer war, habe H. den Gedanken entwickelt, dass Grafing "von Muslimen ausgerottet" worden sei. Daraufhin habe er beschlossen, sich "zum Selbstschutz" dem Islam anzuschließen und so viele "Ungläubige" wie möglich zu töten, Allah habe ihn dafür beauftragt. "Auf dem Bahnsteig kamen Menschen auf mich zu, ich dachte, sie wären von Allah gebracht worden, dass ich sie umbringe", sagt H. Er wisse, dass dies Wahnsinn sei, "in dem Moment hat alles Sinn ergeben". Als er sein Survival-Messer aus seinem mitgebrachten Camping-Rucksack herauszog, will er sich in seiner eigenen Welt befunden haben. Er habe noch "Allahu akbar" gerufen, sagt er. Dann nahm er sich das Messer und griff vier Menschen an.

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