Projekt:Den Teufelskreis durchbrechen

"Kinderleicht" der Caritas hilft Kindern suchtgefährdeter und psychisch labiler Eltern. Diese müssen sich nicht nicht selbst in Therapie begeben, das Programm ist kostenlos und konfessionsunabhängig

Von Johanna Feckl, Ebersberg

"Mir war mit sechs Jahren schon völlig klar, dass mein Vater säuft." Wenn Renate Schneider, die eigentlich anders heißt, von ihrer Kindheit erzählt, dann liegt das schon über 30 Jahre zurück. Die Erinnerungen aber sind geblieben. "In guten Zeiten hat er zehn bis 20 Halbe am Tag getrunken. Meistens ging es um halb fünf morgens mit der ersten los." Die Sorge um ihren Vater war ein prägendes Element in Schneiders Kinderzeit. "Das war nicht schön anzuschauen, wenn er nicht mehr ansprechbar war." Einige Male ist er nachts abgehauen. Die ganze Familie war auf den Beinen, um ihn zu suchen. Schneider und ihre Geschwister mussten den Vater regelmäßig aus Kneipen holen und nach Hause bringen. Später, als Schneider älter war, ist sie oft zur Stammwirtschaft ihres Vaters gegangen und hat sein Auto heimgefahren. Sie hatte Angst, dass er sich betrunken hinters Steuer setzt.

"Für Betroffene von Suchtkrankheiten und deren Partner gibt es mittlerweile viele Hilfsstellen, aber die Kinder werden oft vernachlässigt", sagt Peter Donhauser von der Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien der Ebersberger Caritas. Zusammen mit Lena Müller-Lorenz von der Fachambulanz für Suchterkrankungen betreut er seit Beginn des Jahres das Projekt "Kinderleicht". Kinder von suchtbelasteten und psychisch erkrankten Eltern bekommen jene Unterstützung, die es in Renate Schneiders Kindheit noch nicht gab. Kindheitserfahrungen wie ihre sind oft sehr belastend, und die Folgen lassen sich auch im Erwachsenenalter meistens nicht abschütteln. So ist es auch bei Bühnenkünstler und Vortragsredner Gaston Florin aus Bruck. Als Schirmherr für "Kinderleicht" unterstützt er das Projekt durch Benefizveranstaltungen. "Ich bin eines von diesen Kindern." Er war fünf Jahre alt, als sein Vater versuchte sich zu erhängen. "Das hat massive Spuren bei mir hinterlassen." Immer wieder habe er mit eigenen depressiven Tendenzen zu kämpfen.

Konkret stellen Kinder von suchtkranken Eltern zum einen die größte bekannte Sucht-Risikogruppe dar. Laut einer Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) aus dem Jahr 2012 haben solche Kinder ein bis zu sechsfach erhöhtes Risiko im Vergleich zu Kindern aus nicht-süchtigen Familien, als Erwachsene selbst an einer Sucht zu erkranken. Zum anderen ist es auch wahrscheinlicher, dass betroffene Kinder psychische Probleme entwickeln. So ist das Risiko von Kindern alkoholkranker Eltern um 116 Prozent erhöht, später einmal an Schizophrenie zu leiden. Auch steigende Gesundheitskosten sind laut der BAJ-Studie eine Konsequenz, nämlich 32 Prozent mehr im Vergleich zu Kindern aus nicht-suchtkranken Familien.

Eine Mann sitzt an einem Tisch mit Weinflasche und Glas im Hintergrund ein Maedchen Radevormwald

Wenn Eltern zu viel trinken, ist das für die Kinder sehr belastend. Diesen will man bei der Caritas nun mit einem speziellen Projekt helfen.

(Foto: Imago/Photothek)

Hinzu kommt, dass betroffene Kinder oft "nicht die Bildungsabschlüsse erreichen, die sie von ihrer Begabung her eigentlich erreichen könnten", sagt Henning Mielke, der Vorsitzende des Vereins NACOA Deutschland, der die Interessen von Kindern aus Suchtfamilien vertritt. So liegt die Abiturquote bei Buben um 15 Prozent niedriger, bei Mädchen sind es zwölf Prozent. Der Wissenschaftler Tobias Effertz mit dem Forschungsschwerpunkt Gesundheitsökonomie spricht auch von einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus einem suchtkranken Elternhaus zu Beginn ihres Erwerbslebens arbeitslos sind; bei Jungen sei es um 24 Prozent und bei Mädchen um 23 Prozent wahrscheinlicher. "Das ist, platt gesagt, ein Ausfall von Produktivität", urteilt Mielke.

Aufgrund der vielen nachteiligen Auswirkungen, die eine suchtbedingte oder psychische Erkrankung von Eltern auf deren Kinder haben kann, stehen bei "Kinderleicht" die Kleinen ganz klar im Fokus. Deshalb kann auch jeder im Landkreis sein Kind anmelden. "Die Eltern müssen dafür nicht selbst in einer Therapie sein", erklärt Müller-Lorenz das Konzept. Sie müssen nur zu einem Erstgespräch bereit sein, um ihnen das Projekt zu erklären. Außerdem ist das Programm kostenlos und konfessionsunabhängig. Bislang kommen sechs Kinder aus dem Landkreis für je eine Stunde in der Woche zu Müller-Lorenz und Donhauser. Sie alle sind im Grundschulalter.

Ein wichtiges Ziel des Programms ist, den Kindern Verhaltensstrategien an die Hand zu geben. Ressourcenstärkende Übungen nennt Müller-Lorenz so etwas, also wie das Kind um Hilfe bitten kann, aber auch, wie es sich selbst helfen kann, wenn Mama oder Papa es im Moment nicht können. So basteln sie beispielsweise eine Notfallbox, die jedes Kind mit nach Hause nimmt. Das kann ein Koffer sein oder auch nur ein Kuvert. In dieser Notfallbox sind etwa Gegenstände mit Symbolen oder ein Glücksstein. Wenn die Kinder daheim in eine Situation geraten, die ihnen Angst macht, können sie die Box öffnen und die Gegenstände herausnehmen. Das mag vielleicht nach nicht viel klingen, "aber es hilft den Kindern in ihrem Alltag unheimlich". Da ist sich Müller-Lorenz sicher; das zeigen ihr die positiven Rückmeldungen der Kinder in den Sitzungen.

Caritas - Projekt Kinderleicht

Lena Müller-Lorenz von der Fachambulanz Sucht und Peter Donhauser von der Erziehungsberatung betreuen das Caritas-Projekt "Kinderleicht".

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Angst ist allgegenwärtig bei suchtbedingten und psychischen Problemen. "Betroffene Eltern haben für gewöhnlich eine große Scham: Sie möchten nicht, dass die Krankheit im Ort bekannt wird und sie fürchten das Jugendamt", schätzt Müller-Lorenz die Situation ein. Gaston Florin erinnert sich, dass seine Familie das Thema strikt geheim hielt. Renate Schneider erzählt ähnliches. Wie Gaston Florin und Schneider werden die Kinder zu Geheimnisträgern. Das belastet und grenzt aus. Deshalb ist die einzige Voraussetzung, um an dem Programm teilzunehmen, eine Redeerlaubnis für die Kinder von Seiten der Eltern. Ziel ist also nicht, die Eltern an den Pranger zu stellen, mit dem Jugendamt zu drohen oder Geschichten weiterzutratschen. All diese Sorgen sind unbegründet. "Wir unterliegen der Schweigepflicht", erklärt Donhauser. Es geht darum, die Kinder zu entlasten, indem sie in Einzelsitzungen oder in der Gruppe die Möglichkeit bekommen, über die Erkrankung der Mutter oder des Vaters zu sprechen. "Die Kinder schätzen es sehr, dass sie sich an eine Person außerhalb der Familie wenden können", sagt Müller-Lorenz.

Meistens möchten die Kinder etwas über die Erkrankung des betroffenen Elternteils wissen. Bei Renate Schneider war das genauso. "Mir hat Wissen immer sehr geholfen." Als sie nach der Grundschule auf eine höhere Schule kam, begann sie viel über Alkoholsucht zu lesen. Sie wollte verstehen, warum ihr Vater trinkt, was bei einem Entzug passiert, wie sie Situationen, in denen ihr Vater betrunken ist, einschätzen soll. In den bisherigen Sitzungen von "Kinderleicht" kamen oft Fragen wie "Stirbt mein Papa jetzt?", so Müller-Lorenz. "Neben ressourcenstärkenden Übungen brauchen die Kinder auch eine Aufklärung, um ihnen die Angst zu nehmen!"

Es ist schwer zu sagen, wie viele Kinder in Deutschland tatsächlich in einem sucht- oder psychisch belasteten Elternhaus aufwachsen. Die Datenerhebung ist schwierig, die Dunkelziffer wahrscheinlich hoch - zumal ein Suchtproblem auch stoffungebunden sein kann, wie Glücksspielsucht oder Arbeitssucht. Allerdings gibt es recht wahrscheinliche Schätzungen. Folgt man etwa einem Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit und des Robert Koch Instituts aus dem Jahr 2016, leben bis zu 6,6 Millionen Kinder bei einem Elternteil mit riskantem Alkoholkonsum. Riskant Trinken meint eine tägliche Alkoholmenge, die gesundheitlich nicht mehr unbedenklich ist. Bei Männern sind das zwei kleine Gläser Bier, bei Frauen eines.

"Kinder mit Erfahrungen, wie ich sie erlebt habe, tragen meistens ein oder zwei Päckchen mehr mit sich herum", sagt Gaston Florin. "Kinderleicht" möchte diese Lasten etwas leichter machen. Dazu ist eine Erkenntnis sehr wichtig: "Man denkt immer, die Kinder bekommen nichts mit von den Problemen der Eltern", sagt Renate Schneider. Aber: "Pustekuchen."

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