Süddeutsche Zeitung

Problemkinder:Immer mehr laufen aus der Spur

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Mobbing, Stören, Zuspätkommen - warum die Realschule Vaterstetten einen Sozialarbeiter bekommt.

Alexandra Leuthner

Vaterstetten - Für Vanessa (Name von der Redaktion geändert) hätte der Tag nicht schlechter laufen können. In aller Früh hatte sie eine lautstarke Auseinandersetzung ihrer Eltern aus dem Schlaf gerissen. Natürlich kam sie dann zu spät ins Bad, zu spät zum Frühstücken, zu spät in die Schule. Als sie ins Klassenzimmer schlüpfte, zeigte ihre Armbanduhr zehn nach acht. In der ersten Pause bekam sie ein paar blöde Bemerkungen über den neuen Pullover zu hören, den ihre Mutter vor ein paar Tagen gekauft hatte. Zu Hause hatte sie dann auf Facebook geschaut und ein Eintrag auf ihrer Pinnwand hatte ihr für den Tag den Rest gegeben: "He, Vanessa, deinen billigen Pulli hab ich doch gerade erst bei Aldi gesehen." Am nächsten Morgen trödelt sie daher absichtlich so lange herum, bis sie wieder zu spät in die Schule kam - um mit niemandem reden zu müssen. Und so geht das die nächsten Tage weiter.

Vanessas Geschichte ist schon ein paar Jahre her, doch solche oder ähnliche könnte die Rektorin der Staatlichen Realschule Vaterstetten viele erzählen, wenn sie begründen soll, warum sie beim Schulzweckverband den Antrag gestellt hat, einen Sozialarbeiter in ihre Schule zu schicken. Etwa die von dem Fünftklässler, der jeden Tag nach der sechsten Stunde einfach bis in den späten Nachmittag hinein in einem dunklen Winkel der Aula sitzen bleibt, weil seine Mutter Schichtdienst arbeitet und ihm verboten hat, früher nach Hause zu kommen. Oder von dem elfjährigen Mädchen, das gar nicht mehr heim will, weil seine Eltern dauernd miteinander im Clinch liegen.

Bei den Lehrern in der Schule werden solche Schüler dadurch auffällig, dass sie sich nicht konzentrieren, dass sie den Unterricht stören, ihre Noten schlechter werden. "Es gibt auch ein paar notorische Zuspätkommer bei uns im Augenblick", erzählt Schulleiterin Dorothea Weigert-Fischer. "Natürlich stört das den Unterricht, den Lehrer, die anderen Schüler. Aber darum geht es nicht in erster Linie. Die Probleme liegen doch meistens ganz woanders." Und die seien heutzutage so vielfältig, dass sich Schulen und Lehrkräfte schwer täten, alleine damit fertig zu werden. "Und da gibt es kaum mehr einen Unterschied zwischen den Schulen, alle sind betroffen."

So hat Weigert-Fischer also im vergangenen März beantragt, einen Schulsozialarbeiter an ihrer Schule zu installieren. "Instabile Familienverhältnisse, zunehmende Herausforderungen in der Nutzung von Massenmedien, Ansprüche an angemessenes Arbeits- und Sozialverhalten" waren nur einige der Punkte gewesen, die sie in ihrer Antragsbegründung genannt hatte. Übersetzt heißt das: Immer mehr Kinder sind betroffen von Scheidungen und zerbrechenden Familien. Auch seien, sagt Weigert, viele Eltern heute nicht mehr in der Lage, in der Erziehung "die Schwerpunkte zu setzen, die wir uns vorstellen". Vorsichtig ausgedrückt. Dann wird sie etwas deutlicher: Eltern versuchten heute viel zu oft, mit ihren Kindern auf gleicher Ebene zu reden, da fehle den Kindern einfach die Orientierung. "Wenn uns jemand sagt, wir als Schule hätten dafür zu sorgen, dass ein Kind pünktlich kommt, weiß ich eigentlich nicht mehr, was ich sagen soll", so die Pädagogin.

Genau an dieser Stelle, so stellen es sich Weigert und ihre Konrektorin Margot Ostermayer vor, sollte künftig der Schulsozialarbeiter ansetzen. Er - oder sie - könne auf einer anderen Ebene mit den Jugendlichen sprechen als ein Lehrer. "Er hat ja mit Noten nichts zu tun und kann einen ganz anderen Ton anschlagen." Und für die Schüler wäre die Hemmschwelle geringer, offen über ihre Probleme zu sprechen. Zum Beispiel über die Verletzungen und Beleidigungen, die Internetplattformen wie Facebook mit sich bringen. Cybermobbing ist das Stichwort, und diese Art rüden Sozialverhaltens sei mit den Rangeleien oder Beleidigungen auf dem Schulhof der Vergangenheit nicht mehr zu vergleichen, erklären Weigert-Fischer und Ostermayer.

Damals hätten zwei, drei Schüler mitgemacht, ein paar wenige weitere hätten zugeschaut. So ein Streit - den es natürlich heute auch noch gebe, und das nicht zu knapp - sei dennoch in einem engen Rahmen geblieben. "Aber über das Internet kriegt das jetzt eine ganz eigene Dynamik", sagt Weigert. "Was einmal im Netz steht, das kann man nicht mehr zurückholen." Und nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer seien vor Verbalinjurien und Verunglimpfungen im Netz nicht gefeit, weiß Margot Ostermayer. Früher habe man den Ärger aus der Schule erst einmal nach Hause getragen, habe darüber nachgedacht und am nächsten Tag sei vielleicht alles schon nicht mehr so schlimm gewesen. "Heute setzen sie sich im ersten Affekt an ihren Computer und schreiben etwas auf Facebook. Vielleicht tut es ihnen hinterher gleich leid. Aber dann ist es schon zu spät."

Darüber hinaus gebe es aber auch die anderen, die vorsätzlichen Fälle von Mobbing. "Es scheint für manchen eine Form der Freude zu sein, wenn er anderen Angst machen kann", so Weigert. Aber hier müsse man die Sensibilität der Kinder und Jugendlichen schärfen, ihnen das Ausmaß dessen vor Augen führen, was sie mit solchen Aktionen anstellen können. Ihnen auch klar machen, dass sie selbst Opfer von Mobbing werden können. Eine Form der Prävention also, die ebenfalls nur jemand von außerhalb leisten könne. Ein Schulsozialarbeiter könnte auch in Einzelfällen mit im Unterricht sitzen, um die dynamischen Prozesse in einem Klassenverband besser zu verstehen. "Wir haben hier zum Beispiel eine Klasse, die hat das kultiviert, dass sie möglichst viele Verweise sammelt", erzählt Weigert. "Die sagen, wir sind halt so. Da würde ich gerne mal jemanden reinschicken."

Mit einer halben Stelle soll die Schulsoziarbeit in Vaterstetten ausgestattet werden. Zusätzlich gibt es an der Schule einen Schulpsychologen, der an sechs Stunden in der Woche im Haus ist. Während sich dieser vorwiegend um Lernprobleme und Schullaufbahnberatung kümmert, Gutachten erstellt in Sachen Teilleistungsstörung wie Dyskalkulie oder Legasthenie, setzt die Schulsozialarbeit vor allem an emotionaler und gesellschaftlicher Ebene an. Überschneidungen sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern gewollt.

Gemeinsam könne man doch in Problemfällen vielleicht eher helfen, und "jeder Einzelfall ist es wert, dass man sich mit ihm beschäftigt", sagt Weigert-Fischer. Arbeitslos jedenfalls würden die Lehrer ganz bestimmt nicht, so die Rektorin. Vielmehr könne man sich wieder mehr dem Kerngeschäft zuwenden. Und Konrektorin Ostermayer setzt hinzu: "Wir können in die guten Schüler wieder mehr investieren, wenn wir uns nicht nur mit denen beschäftigen müssen, die nicht in die Spur kommen."

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Quelle:
SZ vom 29.10.2011
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