Mehr als vier Dutzend zaunlattendürre Gestalten recken ihre eisernen Körper anklagend von einem Betonsockel aus gegen den Himmel. Mit dieser Skulptur des Künstlers Karl Orth wird am S-Bahnhof Poing seit dem 27. April 2010 der Opfer des "Todeszuges" gedacht. Fester Bestandteil der Veranstaltung ist seit einigen Jahren ein Beitrag des Franz-Marc-Gymnasiums Markt Schwaben. Er findet in Form einer szenischen Lesung statt, erarbeitet 2012 von Lehrer Gerhard Böhm basierend auf Zeugenaussagen von Überlebenden und historischen Dokumenten.
"Als der Wahlkurs 'Politik und Zeitgeschichte' diese 2023 aufführte, fragten mich die Jugendlichen: 'Aber warum steht da nichts über die Hintergründe?' So entstand die Idee einer Gedenktafel", schildert Fachschaftsleiterin Geschichte und Sozialkunde Anna Niedermaier-Fertig die Initialzündung für ihr P-Seminar "Der Mühldorfer Todeszug und das Massaker von Poing".
Auch schon zuvor seien alle Beteiligten immer "ergriffen von dem Ort" gewesen. "Deswegen war es ihnen wirklich ein Anliegen, die Unwissenheit, die sie an sich selbst, aber auch anderen erkannt haben, abzufangen", fasst die Oberstudienrätin das Ziel des Oberstufenkurses zusammen.

In einer Gruppe von zwölf Schülern - "hier müssen wir nicht gendern, es sind alles Jungs, obwohl im AK Politik oft mehr Mädchen vertreten sind" - beschäftigt sich dieser daher seit dem vergangenen September intensiv mit den 79 Jahre zurückliegenden Ereignissen. Große Unterstützung leistet dabei auch der mittlerweile pensionierte Geschichtslehrer Heinrich Mayer, der sich im Gymnasium Markt Schwaben ab 2005 intensiv mit der Thematik beschäftigt.
Fest stehe, so Niedermaier-Fertig, dass etwa 3600 Häftlinge und Zwangsarbeiter am 25. April 1945 in Mühldorf, bei der Evakuierung eines Außenlagers des KZ Dachau, in einen Zug gepfercht wurden. Der stoppte am Morgen des 26. April aufgrund einer Tieffliegerwarnung, die Lok wurde abgekoppelt, die verzweifelten Menschen blieben ohne Nahrung zurück.
"Warum dann die Türen der mit 63 Waggons geöffnet wurden, ist noch nicht hundertprozentig belegt", sagt die Seminarleiterin. Lange hatte man geglaubt, dass das Wachpersonal dies aufgrund einer Falschmeldung getan hätte, der Krieg sei vorbei. 2017 allerdings findet Heinrich Mayer eine andere Ursache heraus.

Poing:Aufstand der Verzweifelten
Der frühere Geschichtslehrer Heinrich Mayer legt neue Erkenntisse zum Massaker an KZ-Häftlingen in Poing vor
"Die Annahme ist, dass die armen Menschen, die unter solchen unmenschlichen Bedingungen eingesperrt waren, mit letzter Kraft revoltiert haben", schildert Niedermaier-Fertig die Vermutung. Fakt sei, dass eine in Poing stationierte Luftwaffeneinheit die Häftlinge mit Waffengewalt zurück in die Waggons getrieben habe. Bis zur Fortsetzung der Fahrt am Morgen des 28. April wurden mindestens 50 Personen erschossen, mehr als 200 verletzt.
Diese Details werden auf der Tafel stehen, deren Entwurf die Schüler bereits an die Gemeinde Poing übergeben haben. "Geplant ist, sie noch mit einem QR-Code zu versehen, der zu weiteren Hintergrundinformationen auf der Schulhomepage führt, die wir gerade neu gestalten", erläutert die Lehrerin, die sich in den letzten Vorbereitungen für die diesjährige Lesung bei der Gedenkfeier befindet - die diesmal vom P-Seminar übernommen wird. "Neben anderen Zitaten wird Max Mannheimer zu Wort kommen. Und eine Schülerin spielt Geige."
Dass sich das Franz-Marc-Gymnasium so intensiv mit dem Thema beschäftigt, erklärt die Pädagogin so: "Ich glaube, dass es zu tun hat mit dem Erbe, das uns Herr Mayer überlassen hat, für den das ein Lebensthema ist." Außerdem gehöre dies zum Selbstverständnis als "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage". Besonders die Ereignisse rund um den Todeszug müsse man immer wieder erwähnen, denn "auch wenn es für uns als Lehrkräfte total selbstverständlich ist, dass es ihn gab, wissen das die Schülerinnen und Schüler der neuen Generation oft nicht."

Sie selbst sehe sich vor allem in den aktuellen Zeiten in der "Verantwortung, den jungen Menschen immer wieder bewusst zu machen, dass sich Nationalsozialismus nicht nur im fernen Berlin oder in Auschwitz abgespielt hat, sondern auch vor der Tür, in der eigenen Heimatgemeinde. Und dass so etwas nie wieder passieren darf."
Die Schüler des P-Seminars sehen das offenbar genauso. Aus ihren Reihen kam der Vorschlag, eine Fahrt zum Mahnmal in den regulären Lehrplan der neunten Klasse zu integrieren. Wer mag, kann aber schon am kommenden Samstag hinfahren - die Veranstaltung ist öffentlich.
Gedenkfeier : Samstag, 27. April,17 bis 18 Uhr, Hauptstraße, Mahnmal in der Nähe der S-Bahnhaltestelle.