Im Dachstuhl der Kirche Sankt Michael in Poing scheppert es gewaltig, als um viertel nach neun die Glocken läuten. Die Feuerwehrkameraden und Einheimischen halten sich die Ohren zu. Nur der katholische Pfarrer Philipp Werner scheint unbeeindruckt von dem ohrenbetäubenden Klang.
Dass sich an einem Samstagmorgen gut zehn Poinger Männer auf dem Dachstuhl der alten Pfarrkirche versammeln, liegt an einem Fund, dessen Bergung das Erklimmen von drei Treppen und zwei schmalen Leitern erfordert: Im Turm der Kirche befindet sich ein seltsames Konstrukt. Bei genauerem Hinsehen identifizierten dessen Entdecker es als alte Notglocke.
Ein junger Kunstschmied entdeckte die Notglocke
Gefunden wurde sie im September vergangenen Jahres bei Elektroarbeiten, die Christian Falterer im Glockenstuhl in der alten Sankt Michael Kirche ausführte. Dessen Sohn, der 24-jährige Kunstschmied Leonhard Falterer machte im obersten Eck des Turms die Entdeckung. Das rostige Gebilde scheint aus einer alten Gasflasche entstanden zu sein, an die mit einer Feder ein manueller Hammer befestigt ist. Offenbar wurde sie im Dachstuhl vergessen, nachdem sie ihren Dienst erledigt hatte.

Welchem Zweck diese Glocke diente, wann sie gefertigt wurde oder wer sie geläutet hat, ist der Gemeinde bisher ein Rätsel. Auch erste Nachfragen bei ansässigen Schlossern blieben ergebnislos.
Zur gemeinschaftlichen Rettungsaktion des mysteriösen Funds treffen sich an diesem Vormittag Pfarrer Philipp Werner, Christian Falterer und Kirchenpfleger Werner Lawes sowie einige Feuerwehrkameraden. Dank guter Laune und tatkräftiger Zusammenarbeit gelingt es rasch, den schweren Fund an einem Seil hinunterzutransportieren. „Der Glöckner von Poing“ nennen ihn die Umstehenden lachend, als Pfarrer Werner den Klang der Glocke demonstriert.
Der Ursprung der eigenartigen Entdeckung ist aktuell noch unklar. Pfarrer Werner hat jedoch bereits zwei Theorien entwickelt. Die erste führt in das Jahr 1954 zurück. Damals wurde das Gebäude nach einem Teileinsturz völlig umgebaut und erweitert, wobei der gotische Turm jedoch erhalten werden konnte. Während der Renovierungsarbeiten, so Werner, könnte die Notglocke als Ersatzstück für die Gottesdienste gedient haben. Diese fanden damals in einem Saal in der gegenüberliegenden Liebhardt-Wirtschaft statt.
Ein zweiter Ansatz für die Lösung des Rätsels führt den Pfarrer zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs um 1941. In vielen Gemeinden wurden damals die Kirchenglocken konfisziert damit sie eingeschmolzen und zu Waffen verarbeitet werden konnten. Die gefundene Notglocke könnte als Ersatzstück gebaut und im Turm montiert worden sein.
Pfarrer Philipp Werner ruft die Gemeinde zur Mithilfe auf
„Letztendlich wissen wir es aber nicht, wann und wofür sie benutzt wurde“, erklärt Werner und ruft deshalb alle Zeitzeugen Poings auf, sich in der Pfarrei zu melden, um das Geheimnis um die Notglocke zu lüften. Die Nachricht habe sich schnell rumgesprochen, berichtet Franz Schütz, der seit März vergangenen Jahres in Poing lebt und die Bergung der Glocke interessiert verfolgt. „Poing hat eine starke Gemeinschaft“, sagt er lobend.


Die alte Pfarrkirche beherbergt aktuell fünf Glocken, jede hat sogar ihren eigenen Namen. „Johannes der Täufer“ ist mit dem Entstehungsjahr 1929 die älteste. An die Installation der Glocken im Kirchturm kann sich der Poinger Franz Baumann noch gut erinnern. Als Schüler hat er den Einsatz gebannt verfolgt. „Ganz Poing hat zugeschaut“, berichtet er lächelnd. Mithilfe eines Seilzugs sei die Glocke außen entlang des Turms hochgezogen und durch einen Durchschlag in der Wand in den Dachstuhl transportiert worden sein.

Der Glockenfund hat beim Bergungsteam generell das Interesse am Thema Kirchenglocken geweckt, wie deutlich wird, als die Männer Entstehung und Funktionsweise der hochwertigen Kirchenglocken erläutern – durchaus mit einigem Stolz.
Zur Herstellung einer Glocke benötige der Gießer eine dreiteilige Form, bestehend aus dem Kern, der sogenannten „falschen Glocke“ und dem Mantel. Der Kern entspricht hierbei dem Inneren der Glocke, während die falsche Glocke in Umfang und Aussehen genau der späteren, noch zu gießenden Bronzeglocke zu entsprechen hat. Bevor die Glocke gegossen werden kann, muss die Bronze, bestehend aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn, schmelzen und wird hierfür auf 1100 Grad Celsius erhitzt. Anschließend wird der Mantel abgenommen und die falsche Glocke zerschlagen. In den Hohlraum zwischen Kern und Mantel gießt man dann die heiße Bronze, die, nach einigen Tagen Erkaltung, die richtige Glocke ergibt.
Ausschlaggebend für den Klang einer Glocke sei zudem der „Läutewinkel“, denn der Schwengel dürfe nicht zu hart auf die Bronze aufschlagen. Poings Glockensystem ist in dieser Hinsicht vorbildlich und das Glockeninnere scheint von den regelmäßigen Aufprallen nicht überstrapaziert. Überdies verfügt der Kirchturm über die passenden Fensterlamellen, die dank ihrer schrägen Stellung eine gute Schallausbreitung ermöglichen.
Der Fund soll im Pfarrsaal als Erinnerungsstück dienen
Über die Zukunft der Glocke ist laut Pfarrer Werner noch nicht endgültig entschieden worden. Vermutlich findet sie ihre neue Heimat im Pfarrsaal, wo sie als Erinnerungsstück aufgehängt werden soll. Auch über eine Tafel wird diskutiert, auf der die Geschichte des Fundstücks festgehalten werden kann. Dafür braucht es jedoch tatkräftige Einheimische, die mithelfen und die Geschichte der Glocke rekonstruieren.

Nach erfolgreicher Rettungsaktion durch alle Schächte von der Turmspitze bis vor die Türen der Kirche, lässt sich im hellen Tageslicht schon das erste Indiz festmachen: 1944 ist zwischen dem Rost als Datum zu entziffern. Was dort wohl alles noch zum Vorschein kommt, wenn der Fund erst mal gesäubert ist? Nun widmet sich die Gruppe jedoch zunächst einer anderen Mission: „Weißwürste und Weißbier“, hat der Pfarrer angekündigt. Das lässt man sich wohl kaum zweimal sagen.