Gedenken an Opfer des Todeszuges:Vergangen, aber nicht vergessen

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Seit 2010 erinnert in Poing ein Denkmal an die Opfer des sogenannten Todeszuges. Das Massaker an Häftlingen im April 1945 ist wohl die bekannteste Gräueltat der Nazis im Landkreis Ebersberg. (Foto: Christian Endt)

Zum 78. Jahrestag des Massakers an KZ-Häftlingen in Poing erinnern Schülerinnen und Schüler bei einer szenischen Lesung an die Ereignisse. Geschichtsforscher Heinrich Mayer kündigt derweil neue Erkenntnisse an.

Von Ulli Kuhn, Poing/Markt Schwaben

Je näher das Kriegsende rückte, desto prekärer wurde die Lage noch einmal für die KZ-Häftlinge. Um die Spuren des Holocaust' zu verwischen, wurden sie durch das Deutsche Reich getrieben, was später unter dem Begriff Todesmärsche Eingang in die Geschichtsbücher fand. Aus dem KZ-Außenlager in Mühldorf wurde ein Zug mit 3600 Menschen, zusammengepfercht in Viehwaggons, auf eine schreckliche Reise geschickt. Auf dem Weg nach Seeshaupt am Starnberger See musste der Zug aufgrund eines Lokomotiv-Schadens einen längeren Halt in Poing einlegen. Daraufhin versuchten einige der Häftlinge zu fliehen. Das Resultat: 50 Häftlinge wurden erschossen, mehr als 200 verletzt. Heinrich Mayer, ein mittlerweile pensionierter Geschichtslehrer des Franz-Marc-Gymnasiums in Markt Schwaben, forscht seit den 1980er Jahren an der Aufarbeitung dieses Ereignisses.

Auch die Markt Schwabener Gymnasiasten waren in den vergangenen Jahrzehnten sehr aktiv. "Meine Schüler recherchierten eigenständig in lokalen Archiven, wir sprachen auch viel mit Überlebenden wie Leslie Schwartz, der bei dem Massaker schwer verletzt und später befreit wurde", so Mayer. Auch mit den Großeltern der Schüler, den Bürgern, die miterlebten, wie am 27. April ausgehungerte Menschen durch die Poinger Straßen torkelten, habe man gesprochen, die Berichte dokumentiert. "Wir haben immer wieder Ausstellungen organisiert, viele verschiedene Projekte ins Leben gerufen, vieles davon ist auch auf der Webseite des Gymnasiums unter 'Archiv AKP' nachzulesen", sagt Mayer. Unter anderem sei ihre Recherche in den, 2011 erschienenen BR-Film, "Endstation Seeshaupt" eingeflossen. Über die Odyssee des Überlebenden Lesley Schwartz, mit dem Mayer und seine Schüler viel zusammenarbeiteten, sei 2011 auch der Film "Der Mühldorfer Todeszug" gedreht worden, so Mayer.

Neue Informationen eröffnen alte Fragen

Gemeinsam mit seinen Schülern und unterstützt von den Kommunen Mühldorf, Seeshaupt und Dorfen trug Geschichtslehrer Mayer in jahrzehntelanger Forschung immer mehr Fakten zusammen. Die schulische Recherche zeigt: In Seeshaupt angekommen, hätten die Häftlinge wohl umgebracht werden sollen. Doch es kam anders: "Nach dem Massaker in Poing setzte sich der Zug wieder in Bewegung, wurde versehentlich von alliierten Bombern beschossen - wobei viele der Insassen starben - und wurde schlussendlich von amerikanischen Truppen befreit", berichtet Mayer. Wie genau es zu dem Poinger Massaker kam, sei heute noch umstritten.

Aussagen von Überlebenden des Massakers wie Leslie Schwartz, Max Mannheimer und Stephen Robert Nasser (von links, bei einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2011) wurden von Schülern des Markt Schwabener Gymnasiums archiviert. (Foto: Christian Endt)

"Bis letztes Jahr noch dachte man, die SS-Männer hätten den Zug geöffnet, da sie im Radio hörten, der Krieg sei vorbei", sagt Mayer. Denn ungefähr zu der Zeit, in welcher der Todeszug in Poing Halt machte, hatten Widerstandskämpfer der Gruppe "Freiheitsaktion Bayern" einen Radiosender gekapert und verkündet, dass der Krieg bereits verloren sei. "Man weiß jetzt aber, dass diese Aktion erst am 28. April stattfand. Der Todeszug hielt bereits am 27. April in Poing", erklärt Mayer.

Die Suche nach den Tätern wird wohl nie gänzlich abgeschlossen sein

Weshalb die Häftlinge in Poing wirklich aus den Waggons gelassen wurden, und wie es zu ihrer Flucht kam, gelte es also noch zu klären. "Die Häftlinge begannen auf jeden Fall, aufgrund der schlechten Versorgung zu revoltieren." Das sei gut belegt, auch durch Zeugenaussagen von Überlebenden, so Mayer. Auch die Suche nach den Tätern habe sich als schwierig herausgestellt. "Wenn man noch Täter ausfindig machen konnte, wurden diese eigentlich vor Gericht gebracht", sagt Mayer. "Ein SS-Leutnant Windmüller beispielsweise war definitiv mit seiner Luftschutzeinheit an der Bewachung des Zuges beteiligt." Doch die Staatsanwaltschaft habe die Klage gegen ihn abgewiesen: Der Angeklagte Windmüller sei nicht aufzufinden.

"Dabei hat sich Windmüller nach seiner Kriegsgefangenschaft ganz normal in seiner Heimat Karlsruhe gemeldet. Er hat beim Amt Wiedergutmachung für seine Kriegsgefangenschaft beantragt, auch erhalten und dort bis zu seinem Tod gelebt", sagt Mayer. "Die Staatsanwaltschaft hätte wissen müssen, dass er wieder in Deutschland lebt. Das ist uns unerklärlich, wie es zu diesem Fehler kommen konnte", so der Geschichtslehrer. "Wir forschen natürlich immer weiter - manche Fragen jedoch werden wir wohl nie gänzlich beantworten können."

Die Arbeit gegen das Vergessen will man im Franz-Marc-Gymnasium fortführen

Wichtig sei, dass diese Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten, so Mayer. "Ich mache mir immer dann Sorgen um das Vergessen, wenn die Aufarbeitung nicht in institutionellen Händen liegt." Deshalb sei er sehr froh, dass die Schulleitung und die Lehrerschaft des Franz-Marc-Gymnasiums seine Arbeit fortführten. "Ich selbst arbeite im Ruhestand noch genauso viel an dem Thema, nur eben mehr in der Recherche als in der Lehre."

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Letzteres liegt mittlerweile in den Händen von Anna Niedermaier. Sie ist Geschichtslehrerin und hat die Aufarbeitung der Geschehnisse, die Heinrich Mayer vor 40 Jahren begann, übernommen. "Meine Aufgabe ist es, sein Werk am Leben zu erhalten", sagt Niedermaier. Sie führt auch den Kurs "Politik und Zeitgeschichte" weiter, den Mayer zu seiner Zeit leitete.

Zur Gedenkfeier für das Massaker tragen sie und ihre Schüler nun wieder eine szenische Lesung bei. "In dem Text sind die Recherchen Mayers und der Schüler verbaut", so Niedermaier. Generell sei die Schule sehr aktiv, wenn es um die NS-Aufarbeitung geht, sagt die Lehrerin. Das habe wohl schon auch damit zu tun, dass damals dieses Verbrechen in unmittelbarer Nähe passiert sei.

Der lokale Bezug macht die historischen Ereignisse für die Schüler greifbar

"Viele unsere Schüler wohnen schließlich in der Nähe des Bahnhofs, an dem das Massaker stattfand, laufen vielleicht sogar jeden Tag daran vorbei", so Niedermaier. Auch wenn sie mittlerweile keine Schüler mehr habe, die noch Zeitzeugen als Verwandte hätten, sorge der lokale Bezug doch immer noch für Interesse bei den Jugendlichen.

Schulleiter Peter Popp betont, wie wichtig auch der Schule die Auseinandersetzung mit dem Thema sei. "Wir erkennen die Verantwortung, den Schülern das Thema näher zu bringen. Wir machen auch viel zu Rechtsextremismus und Antisemitismus im weiteren Sinne", sagt er. Das Wichtigste sei, und da sind sich Mayer, Niedermaier und Popp einig, dass Vergangenes nicht auch zu Vergessenem werden dürfe. Lange Zeit hatte die Schule deshalb jedes Jahr Überlebende des Todeszuges zu Vorträgen eingeladen. Einer dieser Überlebenden, Max Mannheimer, erinnert sich der Schulleiter, fand den treffenden Satz: "Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber, dass es nicht wieder geschieht, dafür schon."

Diesen Auftrag nimmt das Gymnasium nach wie vor ernst - deshalb wird sie nun die Gedenkfeier wieder begleiten. Geschichtslehrer Mayer hat wohl neue Erkenntnisse, die er öffentlich machen will, und Poings Bürgermeister wird Gedenkworte sprechen.

Die Veranstaltung findet am Donnerstag, 27. April, am Denkmal in der Bahnhofsstraße Poing statt und beginnt um 17 Uhr.

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