Poing:Erinnerungen voller Schmerz und Scham

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Zeitzeugen, Bürger und Politiker gedenken des Massakers der Nazis an jüdischen Gefangenen im "Poinger Todeszug" vor 69 Jahren.

Von Annette Tubaishat

Graue Wolken hingen tief, die Lautsprecher waren durch wasserdichte Verkleidungen geschützt, und wer nicht für ordentliches Schuhwerk gesorgt hatte, dem kroch die feuchte Kälte vom Grasboden bald in die Beine. Das Wetter gebärdete sich vergangenen Sonntag dem Anlass entsprechend: am Mahnmal am Poinger Bahnhof gedachte die Gemeinde den Opfern des Todeszuges von Poing am 27. April 1945. Rund 100 Gäste haben sich bei der Gedenkfeier eingefunden, neben Poinger Bürgern auch die Bürgermeister einiger umliegenden Gemeinden, die Bundestagsabgeordneten Ewald Schurer und Andreas Lenz sowie der vom Sicherheitsdienst umrankte Generalkonsul der Vereinigten Staaten, Bill Möller, der sich zu Ehren von Leslie Schwartz in Poing eingefunden hat. Als einer der letzten Zeitzeugen des Todeszuges und Überlebender des Holocausts war der heute in den USA lebende Leslie Schwartz der Hauptgast der Gedenkfeier.

Leslie Schwartz überlebte das Massaker von Poing. 69 Jahre später kehrt er an den Ort des Schreckens zurück. (Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Bürgermeister Albert Hingerl hielt die Eröffnungsrede und zeichnete die Ereignisse des 27. April nach. 3600 jüdische Häftlinge sollten von einem Außenlager in Mühldorf nach Seeshaupt transportiert werden. Der Zug blieb im Poinger Bahnhof mit einem Lokschaden liegen. Plötzlich ging das Gerücht um, der Krieg sei zu Ende. Die Aufseher rissen die Waggontüren auf und flüchteten, die Häftlinge strömten in Scharen aus den Zügen. "Wir waren frei, wir konnten es gar nicht glauben. Wir rannten in alle Richtungen", erinnerte sich Leslie Schwartz, damals 14 Jahre alt.

Auch er lief durch Poing, auf der Suche nach Essen. "Alle hatten gestreifte Kleidung an. Sie gingen vom Bahnhof aus die Hauptstraße entlang. Wie eine Ameisenkolonie sah das aus", erinnert sich die Zeitzeugin Brigitte Dinev. Sie war damals sieben und beobachtete das Geschehen vom Fenster ihres Hauses in der Hauptstraße. Leslie Schwartz erzählte weiter: "Ich gelangte auf einen Hof in Poing. Eine junge Frau gab mir Milch und ein Butterbrot. Sie hieß Marianna".

"Mit Schmerz und Scham gedenken wir heute all jener Menschen, die damals in Poing ihr Leben lassen mussten und den Transport nicht überlebt haben", sagte Hingerl weiter. Denn als eine in Poing stationierte Luftwaffeneinheit von dem geöffneten Häftlingszug erfahren hatte und eine SS-Einheit alarmierte, begann das Massaker. Die kleine Brigitte Dinev am Fenster wird Zeuge, wie SS-Leute mit Motorrädern durch den Ort fahren und "peng, peng, geschossen haben". Der junge Leslie Schwartz hatte seine heiß ersehnte Mahlzeit kaum gegessen, "als Schüsse fielen. Wir wurden von der SS zurückgedrängt. Ich kriegte einen Durchschuss, durch Wange und Ohr".

"Es wird uns deutlich", sagte Pfarrerin Stefanie Endruweit bei ihrer Rede am Pult, "dass wir Menschen immer wieder in Gefahr sind falsch zu handeln, nur für das eigene Wohl, oder für unsere Ideologie". So blieb damals offenbar nicht jeder Poinger Bürger unbescholten. Der damals elfjährige Zeitzeuge Hans Steinbigler hört einen Poinger Bauern schreien: "Gewehre fassen, die Juden sind ausgekommen". "Gerechtigkeit, Menschenwürde, sich einsetzen für Schwache", so die Pfarrerin weiter, "dass soll zu unserer Herzensangelegenheit werden". Und auch dieses Bewusstsein war damals vorhanden in Poing. Hans Steinbigler weiß von einem Bauern, der drei Häftlinge im Heuboden versteckt hatte. Kurz darauf durchsuchte die SS seinen Stall. Die Flüchtlinge wurden von den Häschern nicht gefunden. Sie überlebten - wie der Bauer, der unter Lebensgefahr geholfen hatte.

Wer von den Häftlingen nicht flüchten oder sich verstecken konnte, wurde wieder in den Zug gedrängt. "Mindestens 50 Menschen wurden erschossen, 200 waren verletzt", erinnerte sich Leslie Schwartz. Auch die Toten wurden in den Zug verfrachtet. Der setzte sich in Bewegung. Am 30. April, drei Tage später, wurde Leslie Schwartz mit den anderen Überlebenden in Tutzing von den Amerikanern befreit. In Poing erinnerte nichts mehr an die grausamen Ereignisse im Ort.

"Es kostete viele Jahre, viel Mut und viel Überwindung, bis wir an den Punkt gekommen sind uns unserer dunklen Geschichte zu stellen", gestand Bürgermeister Hingerl bei seiner Rede. Mit dem elfjährigen Hans Steinbigler spricht damals niemand über die Ereignisse, auch im Nachhinein nicht: "Es war eine Mischung aus Furcht und Betroffenheit, aber darüber geredet hat niemand." Auch nicht mit der siebenjährigen Brigitte Dinev. Steinbigler nimmt sein Erdkundebuch und entnazifiziert es mit dicker, blauer Tinte.

"Um den richtigen Weg zu gehen, braucht es die Erinnerung", betonte Pfarrerin Endruweit. Und das ist Leslie Schwartz' Mission: die Erinnerung lebendig halten. "Ich fühle mich verpflichtet Zeugnis zu halten", sagte er in seiner Rede. "Nicht als Richter oder Ankläger. Sondern im Sinne von 'nie wieder'. Es liegt an euch." Als der 84-Jährige den Ort des Geschehens, das sein Leben so nachhaltig gezeichnet hat, verlässt, durch Nieselregen und über schlammigen Boden, hört man ihn murmeln: "Was für ein Gefühl. Ich spaziere hier davon als freier Mann. Ein wunderbares Gefühl."

© SZ vom 29.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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