Albert Hingerl sitzt an seinem Schreibtisch im Poinger Rathaus. "Ich bin jeden Tag hier", sagt er. Das Gespräch findet dieser Tage per Telefon statt. Klar, Abläufe hätten sich aufgrund des grassierenden Coronavirus schon geändert. Zum Beispiel gäbe es kaum noch externe Termine, mit Gemeinderäten und Mitarbeitern werde sich in Telefonkonferenzen oder via E-Mails ausgetauscht - persönliche Kontakte würden vermieden, wo es geht. Aber an einem hat auch Corona nichts verändert: Der 65-Jährige kommt in sein Büro ins Rathaus. Seit nunmehr 20 Jahren. Und doch wird damit in einigen Tagen Schluss sein. Dann nämlich wenn der langjährige SPD-Bürgermeister Hingerl das Chefamt im Poinger Rathaus an seinen Nachfolger Thomas Stark übergeben wird.
Einige Wochen zuvor, als ein persönliches Treffen noch möglich war, spricht Hingerl von einer "Vernunftentscheidung": "Ich möchte nicht mit 71 aufhören." Die 71 betont er dabei besonders, als ob dieses Alter und ein Bürgermeisteramt in einer florierenden Gemeinde am Rande Münchens, wie Poing es ist, einfach nicht zusammenpassen. Ginge es nach seiner momentanen Leidenschaft, so fügt Hingerl an, dann wäre seine Wahl anders ausgefallen. Ein, zwei weitere Jahre Rathauschef sein, das hätte er schon noch gemacht. Aber die Wahl war nun einmal schon heuer. Und in dem klaren Wissen zur Wahl antreten, dass er im Falle eines Sieges nicht die komplette Legislaturperiode im Amt bleibt - das kam für den 65-Jährigen nicht in Frage. Kreisrat für die SPD-Fraktion, das wird er wie bisher aber auch in der neuen Amtszeit sein. So ganz ohne aktive politische Gestaltungsmöglichkeit, von heute auf morgen, das schien dann doch nicht zu klappen.
Aufgewachsen in Taufkirchen an der Vils im Nachbarlandkreis Erding ging Hingerl mit 17 Jahren, 1971, zur Polizei. "Ich wollte das so", sagt er heute. Es habe aber einige Menschen in seinem Umfeld gegeben, die seinen Berufswunsch nicht verstehen konnten. Mit langen Haaren und dem ein oder anderen Abenteuer, das man im jugendlichen Eifer eben so erlebt, entsprach der junge Hingerl wohl auch nicht unbedingt dem typischen Bild eines Polizistenanwärters. Die Erklärung für seine Entscheidung, dennoch in diesen Berufsstand einzusteigen, klingt simpel wie überzeugend: "Für Gerechtigkeit habe ich schon immer etwas übrig gehabt."
Während seiner Ausbildung war er eingesetzt in Nürnberg, München, Dachau. Danach, ab 1974, arbeitete er als Polizist beim Bundeskriminalamt in München. 1991 wechselte er ins Innenministerium, da lebte er bereits seit 17 Jahren mit seiner Frau Rosemarie in Poing und hatte in der Gemeinde seit einem Jahr ein Gemeinderatsmandat und das Amt des Zweiten Bürgermeisters inne. Wie kam es eigentlich, dass es den 65-Jährigen und seine Frau, die er übrigens vor 49 Jahren als Jugendlicher kennenlernte und nun seit 44 Jahren mit ihr verheiratet ist, an den östlichen Speckgürtel von München nach Poing verschlagen hat?
Zufall. 1974 - damals noch Münchner - urlaubte er zusammen mit seiner Frau in Marokko. Drei Tage mussten die beiden auf Tickets warten, um mit ihrem Auto auf der Fähre von Spanien aus übersetzen zu können. Viel Zeit, um Leute kennenzulernen. Und einer davon war ein Deutscher, dessen Cousin in Poing lebte. Als die Urlaubsbekanntschaft einige Zeit später seinen Verwandten in Poing besuchte, traf man sich dort. Und dann hat es sich eben irgendwie ergeben, dass die Hingerls ein Jahr später, 1975, von München in das zu jener Zeit noch recht beschauliche Poing gezogen sind - damals war die Gemeinde noch fünf Jahre davon entfernt, die 6000-Einwohner-Marke zu knacken.
Heute sind es rund 11 000 Menschen mehr, die Poing ihr Zuhause nennen. Dass die Gemeinde oft in Alt-Poing und Neu-Poing aufgeteilt wird, in die Alteingesessenen im Süden und die jungen Familien in den Neubaugebieten im Norden, dafür hat Hingerl nur ein leichtes Kopfschütteln übrig. "Für mich ist das, der Zuwachs und die Veränderung der Ortes - für mich ist das kein Problem", sagt er. "Das ist ja schon ein richtiges Spiel geworden: alt gegen neu." Er hofft, dass die Eröffnung der Eisenbahnunterführung in diesem April daran etwas ändern wird. Für ihn ist die Unterführung symbolisch, "damit die Gemeindeteile zusammenkommen", sagt er. Nicht unbedingt zusammenwachsen, aber immerhin doch zusammenkommen.
Irgendeine Gruppe gegen eine andere ausspielen zu wollen, das scheint von Hingerl weit entfernt zu liegen. "Ich bin ein politischer Mensch", sagt Hingerl über sich. Neben seiner Polizeilaufbahn trat er 1980 in die SPD ein, 1990 zog er für die SPD-Fraktion in den Poinger Gemeinderat und wurde Zweiter Bürgermeister. Im Jahr 2000, bei seinem zweiten Versuch, wählten die Poinger ihn zum Bürgermeister und er ist es bis heute. Zur selben Zeit übernahm er auch ein Kreistagsmandat. "Meine Aufgabe als Bürgermeister ist, dass die Leute das haben, was sie brauchen." Den Menschen also immer versuchen zu helfen, aber unter der Prämisse, das gleiche bei jedem anderen auch zu tun. Zum Beispiel die für die Neubaugebiete W7 und W8 beschlossenen 40 Prozent sozialen Wohnungsbau. Für Hingerl ist das eine der wichtigsten Entscheidungen, die während seiner Amtszeit getroffen wurden. "Bringt ja nichts, wenn sich die Leute das Wohnen hier gar nicht mehr leisten können."
Ja, der "Buck" eben. So nennen ihn viele seiner Leute im Rathaus, Gemeinderäte, Freunde und auch Menschen auf Poings Straßen. "Bac ist für uns alle da!" - ein Werbeslogan für die Deo-Marke "Bac" in den 1970er-Jahren. Das passt, auch wenn die Schreibweise unterschiedlich ist. Urheber für den Spitzname ist aber eigentlich sein ein Jahr älterer Bruder, wie Hingerl erzählt. Als kleiner Bub konnte der "Albert" nicht aussprechen, so wurde "Abacki" geboren. Irgendwann wurde daraus "Backi" - und schließlich formte dann eine amerikanisierte Schreibweise "Buck".
Aber wie gelingt das nun, ein Bürgermeister für tatsächlich alle Bürgerinnen und Bürger zu sein? "Das Wichtigste ist eigentlich, dass man die Menschen mag, wie sie sind - die wird man nämlich nicht ändern können", sagt Hingerl. "Nicht nur akzeptieren, sondern wirklich mögen." Das hat wohl auch etwas mit Menschenkenntnis zu tun. Und da scheint es kein Zufall zu sein, dass Hingerl ein leidenschaftlicher Bücherleser ist.
Das persönliche Treffen einige Wochen zuvor führt den 65-Jährigen ins Poinger Literaturhaus. Das Häuslein am City-Center ist eine Büchertauschbörse: Jeder kann dort Lesestoff hinbringen, der nicht mehr gebraucht wird, und sich im Gegenzug aus der Vielzahl an Büchern eines aussuchen. Hingerl ist gerne hier. "Wenn man die Welt kennenlernen möchte, gibt es nichts besseres als Bücher", sagt er damals, umgeben von übervollen Bücherregalen, "die bringen einen überallhin!" Durch Literatur die Welt kennenlernen, Menschen kennenlernen. Aber nicht nur im Kopf. "Die Blechtrommel" von Günter Grass etwa ist der Grund für Hingerls Reisen nach Warschau und an die Ostsee gewesen. In Kirgistan war er, weil er einst ein Buch von einem kirgisischen Autor gelesen hatte. "Wenn man hier drin ist und ein bisschen Fantasie hat, dann liegt die ganze Welt vor einem."
Zurück ins Jetzt und in Hingerls Büro, wo der 65-Jährige ins Telefon spricht. Eigentlich hätte es für ihn im Juni nach Albanien und Marokko gehen sollen. Aber Corona hat die Pläne durchkreuzt. Ebenso wie seine Abschiedsfeier, die zusammen mit der Verabschiedung von neun Gemeinderäten angesetzt war. Für Hingerl scheint es nicht tragisch zu sein, dass seine Amtszeit nun wohl leiser zu Ende gehen wird, als es ohne Corona gewesen wäre. "Ach, das ist meines Erachtens gar nicht so wichtig". Verschoben ist ja nicht gleich aufgehoben. "Dann muss man halt jetzt erst einmal mehr lesen", fügt Hingerl an. Dann verabschiedet er sich am Telefon und legt auf.