Süddeutsche Zeitung

Missbrauchsskandal:Piusheim: "Seine Hand wanderte zwischen meine Beine"

Frühere Schüler beschreiben, wie sie in der katholischen Erziehungsanstalt sexuell missbraucht wurden. Warum bekam niemand etwas mit? Eine Spurensuche mit zwei einstigen Abteilungsleitern.

Von Korbinian Eisenberger

Als Walter Friedrich in den Keller kam, da war es schon zu spät. Der Junge hing an einem Schal von der Decke. Er starb durch einen blauen Sechzgerfanschal, der an einem Heizungsrohr befestigt war. Friedrich konnte den Jungen nicht mehr retten. Ein 16 Jahre alter Internatszögling, der im Gemeinschaftskeller zwischen Kickertisch und Tischtennisplatte starb. Weil das Leben im Heim so schlimm war. Danach sah es aus an diesem Abend im Sommer 1980. Doch Walter Friedrich sagt: "So war es nicht."

Droht der Kirche ein weiterer Missbrauchsskandal? Nach den Aussagen eines 56-Jährigen verdichten sich nun die Hinweise, dass auch in der einstigen katholischen Erziehungsanstalt Piusheim in Baiern Aufklärungsbedarf besteht. Am Freitagnachmittag wurden erstmals Details über die Erlebnisse anderer früherer Piusheim-Schüler bekannt.

Sprachrohr ist Matthias Katsch, Leiter der Opferinitiative Eckiger Tisch, bei ihm haben sich bisher zehn Betroffene und drei Zeugen gemeldet. Deren Berichte beziehen sich ebenfalls auf die Zeit von Anfang der Siebziger bis in die Achtzigerjahre. Abermals ist dort von körperlicher und sexueller Gewalt im Piusheim die Rede, belastet werden mehrere Erwachsene, darunter ein Theologiestudent und ein oder mehrere Pfarrer. Hinzu kommt ein undefinierbar ausgebildeter Geistlicher, dessen Name und Beschreibung auf den "angehenden Pfarrer" aus den Schilderungen des 56-Jährigen passt.

Öffentlich gesprochen hat bisher nur ein Mann, der aktuell selbst wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern vor Gericht steht. Nachfrage also bei jemandem, der zur besagten Zeit im Piusheim angestellt war. Dem damaligen Erziehungsleiter.

"Er setzte mich auf sein Bett und fingerte an mir herum."

Der letzte Freitag im April, über Grafing scheint die Sonne. Walter Friedrich empfängt in seiner Gartenlaube, in sicherem Abstand, mit 72 zählt er zur Risikogruppe. Seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, "ich habe mir schon genug Schiefer mit der katholischen Kirche eingezogen", sagt er. Friedrich berichtet von seiner Zeit im Piusheim, wo er von 1972 bis 1982 arbeitete und die letzten fünf Jahre davon für die Erziehungsleitung zuständig war. Er erinnert sich an den Schüler, der damals ein Teenager war und sich nun im Alter von 56 wegen Kindesmissbrauchs in 731 Fällen vor einem Münchner Richter verantworten muss. "Er war ein ziemlich stiller, schwarzhaariger, zurückhaltender Junge", sagt Friedrich. Also das perfekte Opfer?

Friedrich hat sich auf dieses Treffen aus zweierlei Gründen eingelassen, wie er erklärt. Er wolle einerseits deutlich machen, dass das Piusheim trotz seines über die bayerischen Grenzen hinaus schlechten Rufs auch gute Seiten hatte. "Es war nicht alles schlecht", sagt er. Im Gegenteil, so Friedrichs: "Wir haben viel verbessert." Von einem Missbrauchsfall habe er in zehn Jahren im Piusheim nie etwas gehört oder gesehen, sagt Friedrich. Kein einziger Schüler habe ihm je davon berichtet. Er sagt aber auch, dass er nicht ausschließen könne, dass es in dieser Zeit Missbrauch gegeben hat. Seit er davon gelesen habe, "lässt mich die Geschichte nicht mehr los".

Die Spur führt weiter zum einstigen Leiter der Landwirtschaftsabteilung im Piusheim, zu Andreas Häring. Der 84-Jährige war zwischen 1964 und 2000 für die Landwirtschaft zuständig, bekam also einiges mit, wie er bei einem Telefonat erzählt. Mit dem beschuldigten "angehenden Priester" verbindet er sofort einen Namen. Häring beschreibt einen Mann, der selbst Zögling im Piusheim war und "großen Rückhalt in der Heimverwaltung" hatte. "Wenn man gegen ihn eine Äußerung gemacht hätte, hätte man einen Arschtritt bekommen". Von missbrauchten Kindern oder Jugendlichen habe aber auch er nie etwas mitbekommen.

Wie genau sexuelle Gewalt aussieht, ist in einem Protokoll des Eckigen Tischs zu lesen. Ein Mann berichtet, dass er von 1967 bis 1972 im Piusheim untergebracht war. "Als ich (...) eingeliefert wurde, bin ich schon früh so nach ca. zwei Wochen von einem Theologiestudenten mit auf sein Zimmer genommen worden. Er setzte mich auf sein Bett und fingerte an mir herum. Seine Hand wanderte zwischen meine Beine. Und er nahm meine Hand und drückte sie zwischen seine Beine".

Anfang der 70er wurde das Konzept verbessert, es entstanden aber neue Probleme

Im Garten von Walter Friedrich fällt Blütenstaub auf den Terrassentisch. "Als ich im Piusheim ankam, herrschten dort Zustände wie im Mittelalter", erzählt er, damals 24, und damit unwesentlich älter als manche Zöglinge. Wie in anderen Heimen auch, galt im Piusheim lange: Züchtigung mit Stock, arbeiten am Samstag, Prügelstrafe. "Es ging uns nun darum, diese Strukturen aufzubrechen", sagt Friedrich heute. Der 72-Jährige berichtet, wie er mit dem neuen Heimleiter ein Therapiezentrum eröffnete, wo die Jugendlichen ihr Verhalten per Video analysierten. Friedrich: "Da sah man, dass so gut wie keiner wusste, wie man sich richtig beschwert."

Die Stellungnahmen, die dem Eckigen Tisch und der SZ vorliegen, bestätigen Friedrichs Ausführungen. In Berichten aus den Sechzigern ist noch von einem gruseligen dunklen Loch und gefängnisartigen Zuständen die Rede. Von Schwarzer Pädagogik, die auf Gewalt basiert. "Anfang der Siebziger wurde das pädagogische Konzept offenbar gewechselt", so Katsch. Eine klare Verbesserung. Allerdings, so Katschs Einschätzung, entstand das nächste Problem.

Nach Analyse der Zeugen- und Betroffenenberichte kommt die Opferinitiative zu dem Schluss, dass im Piusheim Anfang der Siebzigerjahre eine neue Dynamik entstand. "Ältere Schüler übernahmen die Kontrolle und übten unter Duldung der Erzieher Gewalt gegenüber jüngeren aus", so Katsch. In einem Protokoll schildert etwa ein früherer Schüler, dass manche Erzieher seiner Wahrnehmung nach bewusst weggesehen hatten. Die 150 Schüler im Piusheim waren seinerzeit zwischen sechs und 21 Jahre alt. Wenn die Geschichte des 56-Jährigen vor Gericht stimmt, geschahen die Übergriffe des angehenden Pfarrers und des Erzieher wahrscheinlich in der Zeit zwischen 1970 und 1985.

Wie konnte all das über so viele Jahrzehnte im Verborgenen bleiben? Falls wirklich Missbrauch geschah - warum habe ich nichts mitbekommen? Fragen wie diese beschäftigen auch Walter Friedrich, der noch am Gartentisch einen früheren Schüler anruft und um ein Treffen bittet. Dass, wie vor Gericht behauptet, vom Piusheim organisierte Prostitutionsfahrten der Schüler nach München ausgingen? Dass über das Piusheim regelrechte Sexpartys stattgefunden haben sollen? Nach allem, was man heute weiß, nach dem Skandal in Ettal. Friedrich sagt: "Ich halte das mittlerweile für möglich.". Es war auch vieles gut damals, sagt er nochmal. Aber, klar: "100 gute Therapiestunden wiegen einen Missbrauchsfall nicht annähernd auf."

Er weiß noch gut, wie er vor 40 Jahren in den Kellerraum gerufen wurde und die Leiche fand. Friedrich ist sich sicher: "Der Junge war nicht suizidal, sondern ein Witzbold". Dass es kein Selbstmord war, sondern ein Scherz, um die anderen zu erschrecken, sagt Friedrich. Der Scherz endete im Drama. Das bleibt vor allem aus dieser Zeit hängen, nicht die lustigen Scherze, die gut ausgingen.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2020/koei
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